Demokratiegeschichten

Pandemie 1957

Als ich mit meiner Mutter über die momentane Corona-Krise am Telefon sprach, sagte sie mir: „Das erinnert mich an die Grippewelle 1957. Damals mussten wir auch nicht zur Schule und blieben alle in den Häusern“. Mein Forscherinteresse war geweckt. Was hat es mit der Grippe im Jahr 1957 auf sich? War das öffentliche Leben auch so eingeschränkt wie jetzt? Und bekam man die Krise in den Griff? Ich fange an zu googeln.

Eine Pandemie

Meine Mutter hat Recht. 1957 wurde die Welt von der „asiatischen Grippe“ heimgesucht. Es war die schwerste Pandemie seit der „spanischen Grippe“ des Jahres 1918, die weltweit mindestens 25 Millionen Todesopfer gefordert hatte. Der Grippewelle der Jahre 1957 bis 1958 fielen eins bis zwei Millionen Menschen weltweit zum Opfer. Aus Asien kommend, erreichte die Grippewelle im Frühsommer 1958 Deutschland. Und kostete hier im Lauf der Jahre 1957 und 1958 30.000 Menschen das Leben.

Unterschätztes Risiko

Von Panik und Hamsterkäufen war damals keine Spur. Auch eine offizielle Kontaktsperre wurde nicht verhängt, Geschäfte blieben offen. Der Sommer sei keine Grippezeit, die Viren würden sich nicht halten. Außerdem sei der Krankheitsverlauf meistens leicht, so die erste Einschätzung der deutschen Virologen. Aber der Krankenstand in Betrieben wurde bis zum Herbst immer höher. Besonders unter Kindern und Jugendlichen grassierte die Grippe. Schulen wurden dennoch nicht geschlossen.

In Heidelberg, wo meine Mutter zur Schule ging, regelte man es so: Fehlten die Hälfte der Schüler*innen einer Klasse, bekam die ganze Klasse frei. Gegen Ansteckung halfen diese Klassenferien wenig. Auch meine Mutter und ihre Schwester erkrankten, aber zum Glück nicht schwer. Einige Tage Bettruhe, Salbeitee, dann war es wieder vorbei.

Gurgeln statt googeln

Im Oktober 1957 nahm man die Grippe ernster als im Sommer. Veranstaltungen wurden zwar nicht abgesagt, aber vor großen Menschenansammlungen und besonders vor hustenden Menschen gewarnt. Warnungen und Ratschläge kursierten natürlich nicht im Internet, sondern wurden von Rundfunk und Zeitungen verbreitet. Und da man noch nicht googeln konnte, gaben Mediziner*innen einen interessanten Tipp: Gurgeln als Vorbeugemaßnahme, und zwar mit Wasserstoffperoxid. Auch formalinhaltige Tabletten waren sehr beliebt. Wir kennen Formalin eher unter dem Namen Formaldehyd, das ungefragt aus alten Möbeln entweicht und gesundheitsschädlich ist.

Ganz falsch war die Idee nicht, denn Formaldehyd oder Formalin tötet Viren tatsächlich ab, ist eben ein richtiges Gift. Auch den Gurgelvorschlag mit Wasserstoffperoxid findet man jetzt auch wieder gegen das jetzt grassierende Corona-Virus, aber auch viele Seiten, die ausdrücklich vor solchen Gurgeleien warnen. In den Griff bekam man die Epidemie 1957 nicht wirklich, eine zweite Welle rollte im Februar 1958 über Deutschland hinweg.

Wirtschaftliche Auswirkungen?

Börsenkurse im freien Fall, Angst vor Massenentlassungen, Milliardenschwere Rettungspakete. Die Sorgen um wirtschaftliche Folgen der Corona-Krise treibt die Menschen heute um. Und während der Pandemie von 1957?

In einer Radioreportage aus dem Oktober 1957 geht es auch um die wirtschaftlichen Folgen der Grippewelle. Damals befürchtete man durch die Krankheitsausfälle eine Drosselung der Industrieproduktion. Außerdem wird die Belastung der Krankenkassen und eine dadurch bedingte eventuelle Erhöhung der Krankenkassenbeträge angesprochen. Im Folgejahr der Pandemie, 1958, kam es tatsächlich zu einer Wirtschaftskrise mit einer hohen Arbeitslosigkeit, vor allem in den USA. Verursacht wurde diese Krise aber eher nicht durch die Pandemie, sondern durch andere Faktoren wie z.B. eine bestimmte Geldmarktpolitik und industrielle Überproduktion. In Deutschland geriet die Kohleindustrie des Ruhrgebiets 1958 infolge der gesunkenen amerikanischen Nachfrage in eine Absatzkrise.

Im Wirtschaftswunder

Insgesamt aber stieg die deutsche Wirtschaftsleistung 1957 und 1958 wie in den Vorjahren. Im September 1958 sank die Arbeitslosenquote sogar auf ihren bis dahin niedrigsten Stand. Deutschland war noch immer mitten im Wirtschaftswunder – Grippewelle hin oder her. Das ist bei uns heute leider ganz anders.

Ein interessanter Radiobeitrag

Auf SWR 2 findet sich eine hörenswerte Reportage mit Originalstimmen aus dem Jahr 1957.


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Dennis R. arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V.

3 Kommentare

  1. Kerstin

    8. April 2020 - 9:30
    Antworten

    Total spannend, dass es sowas in Deutschland in der jüngeren Zeit schon gab und sich auch damals in der Welt verbreitet hat…habe gestern noch den Historiker Professor Rödder gehört, der die Coronakrise als historisch einmalig eingeordnet hat. Ist es eher eine Frage der Quantität?
    Schön, dass ihr die aktuelle Problematik im blog aufgreift! Danke!!!

  2. Alfons MUHLE

    2. April 2022 - 13:09
    Antworten

    Ich wurde 1957 geboren. Im Alter von 8 Jahren erkrankten meine Schwester (3) und ich 1965 an der Asiatischen Grippe. Ich erholte mich zu Hause, meine Schwester im Kinderkrankenhaus in Oldenburg. Danach erkrankte ich in dem Jahr, wo ich auf drängen der Firma eine Grippeschutzimpfung bekam, 3 mal an einer Grippe. Ist heute schon länger als 12 Jahre her. Danach habe ich mich nie wieder einer Grippeschutzimpfung unterzogen und nie wieder daran erkrankt. Auch nicht an Corona.

    • Gegen Vergessen

      4. April 2022 - 14:42
      Antworten

      Dann bleiben Sie auch bitte weiterhin gesund.

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