Frühlingsbeginn, Sonnenschein, erste Blumen: normalerweise perfekt für einen Spaziergang oder ein erstes Picknick. Doch in Zeiten von Kontaktsperre und Virus ist manchem möglicherweise etwas unwohl beim Rausgehen. Wie wäre es also mit einer kleinen Zeitreise? Begeben wir uns doch mal 52 Jahre zurück, ins Jahr 1968. Da sollte an einem kleinen Picknick mit Familie und Bekannten im Stadtpark doch nichts auszusetzen sein, oder?
Gut gelaunt begeben wir uns also zur nächsten Grünfläche, breiten unsere Decke aus und genießen die Sonne auf der Haut. Doch kaum haben wir den Rasen betreten, kommt auch schon ein Parkwächter an und verweist uns des Platzes. Wie wir denn auf die Idee kämen, uns hier niederzulassen? Das sei höchst ungehörig!
Übertrieben? Das war doch bestimmt nicht überall so! Möglich, aber eine Seltenheit wäre der Vorfall auch nicht gewesen. Joschka Fischer, ehemaliger Grünen-Politiker, Vize-Kanzler, Außenminister und 1968 20 Jahre alt, berichtet:
„Wenn Sie damals im Stuttgarter Schlossgarten auch nur den großen Zeh auf den Rasen gesetzt haben, kam innerhalb von Minuten garantiert einer, der Sie angeherrscht hat. „Könned Se net sähe, des isch verbode!“
https://www.isioma.net/sds120730.html
Unter den Talaren, Muff von 100 Jahren!
Bis in die 1960er Jahre galt die westdeutsche Gesellschaft als autoritär, konservativ und zurückgezogen. Politische Mitbestimmung oder politisches Engagement außerhalb eines Amtes? Fehlanzeige! Hier bestimmten die Frauen und Männer, die den Weg in die Politik über Ämter und Mandate gefunden hatten. Fragen der jüngeren Generation über das, was die Älteren während der NS-Zeit getan hatten? Wurden entweder nicht gestellt oder abgewehrt und ignoriert.
Doch ab Mitte der 60er Jahre wirbelten die jungen Menschen die Gesellschaft durcheinander. 1967 begann die große Zeit der Studentenbewegung, in fast allen westdeutschen Universitätsstädten gab es Streiks und Proteste. Häufig richteten sich diese gegen den amerikanischen Einsatz in Vietnam oder die Unterstützung autoritärer Regime in der dritten Welt.
Aber auch das Schweigen über die NS-Zeit und die teils personelle Kontinuität wurden heftig kritisiert. Ein Beispiel für die unzulängliche Vergangenheitsbewältigung, die gerade die Studierenden kritisierten, sahen sie in Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger. Seit 1933 NSDAP-Mitglied, war Kiesinger zudem Mitarbeiter im Auswärtigen Amt und stellvertretender Leiter der Rundfunkpolitischen Abteilung gewesen. Seine NS-Vergangenheit wurde während seiner Kanzlerschaft wiederholt Thema öffentlicher Debatten. Zuletzt im November 1968, als ihn Beate Klarsfeld, eine deutsch-französische Journalistin, auf einem CDU-Parteitag mit den Worten „Nazi! Nazi! Nazi!“ ohrfeigte.
Äußerlich wie innerlich grenzten sich die jungen Leute ab. Lange Haare bei Männern und Frauen, zerrissene Jeans und Miniröcke, Kommunen und neue Formen des Zusammenlebens, sexuelle Revolution – Provokation wurde bewusst gelebt. Das Verhalten der Jüngeren stieß bei vielen Älteren auf kein Verständnis. Ende der 60er Jahre gab es das, was wir ansatzweise heute auch wieder spüren: einen Generationenkonflikt.
Die Notstandsgesetze
In dieser Atmosphäre wurden 1968 die Notstandsgesetze verabschiedet. Sie sollten die Handlungsfähigkeit des Staates in Krisensituationen sichern. Zu diesem Zweck wurden im Grundgesetz 20 Änderungen vorgenommen und eine Notstandsverfassung eingesetzt. Mit Erlass der Gesetzgebung erloschen zudem einige Sonderrechte der Alliierten in Westdeutschland.
Schon seit 1958 wurde um deren Entwurf gerungen, mehrmals scheiterte die Durchsetzung im Parlament. Erst unter der Regierung der ersten großen Koalition war es möglich, die Gesetzgebung durch zu bringen. Trotzdem herrschte unter den Politiker*innen bei weitem keine Einigkeit. Während die Befürworter*innen der Gesetze argumentierten, diese würden dem Parlament im Krisenfall mehr Handlungsfreiheit geben, befürchteten die Gegner*innen einen Machtverlust desselben.
Und noch eine Befürchtung einte die Skeptischen. Parteiübergreifend verband sie die Sorge, dass sich durch die Notstandsgesetze Geschichte wiederholen könnte. Die Entrechtung und Kontrolle der Bürgerschaft, die im Notstand möglich wäre, assoziierten viele mit dem Ermächtigungsgesetz von 1933. Das hatten damals Nationalsozialisten ausgenutzt, um zahlreiche Entrechtungen vorzunehmen und die Gleichschaltung voranzutreiben.
Doch der Streit um die Notstandsgesetze blieb nicht auf das Parlament beschränkt. Studierende, Auszubildende, Gewerkschaften – zahlreiche Bürger*innen taten sich zur Außerparlamentarischen Opposition (APO) zusammen. Durch die Notstandsgesetze geriet eine Gesellschaft in Bewegung, die, was politische Beteiligung anging, lange Zeit stillgestanden hatte. In Parks, auf Plätzen und auf der Straße: Es wurde diskutiert, es wurde gestritten und es wurde gerungen. Vielen Bürgerinnen und Bürgern wurde bewusst, dass Politik kein Elitenprojekt war. Dass sie, wenn sie sich durch Politiker*innen nicht vertreten fühlten, selber aktiv werden mussten. Und dass sie Möglichkeiten finden und schaffen konnten, um sich politisch zu beteiligen.
Gesellschaft in Bewegung
Natürlich hatte es schon in den Jahren zuvor Bewegungen, etwa die Studentenbewegung, gegeben, die für ihre Anliegen Raum einforderten. Aber nie zuvor – und nur selten danach – hat eine Bürgerbewegung so entschlossen Platz in der Öffentlichkeit besetzt und für sich beansprucht wie die außerparlamentarische Opposition. Der Protest gegen die Notstandsgesetze ließ allein im Frühjahr 1968 Zehntausende in Bonn und anderen Städten auf die Straße gehen. Es war der Höhepunkt dessen, was wir heute als 68er-Bewegung kennen.
Welche Krisen habt ihr schon erlebt – und überwunden? Teilt eure Erfahrungen in den Kommentaren, wir sind gespannt auf eure Erzählungen!
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