Demokratiegeschichten

Anerkennung radikal einfordern – Romani Rose und der Hungerstreik (II)

Teil I findet ihr hier.

Kontinuitäten von Diskriminierung und NS-Zeit

Aktenstück: Aufgaben der Münchner Kripo, Zigeunerstelle 1940; Foto: gemeinfrei.

Bezeichnend ist ein Urteil des Bundesgerichtshofes von 1956, das feststellt, dass nicht „rassenideologische Gesichtspunkte“ für die Verfolgung der Sinti und Roma bis 1943 verantwortlich seien, sondern die „asozialen Eigenschaften der Zigeuner“. Diese zutiefst rassistische Einschätzung des obersten deutschen Gerichts offenbart die Haltung und Grundstimmung, die in der Nachkriegszeit gegenüber den Sinti und Roma in der Bevölkerung, vor allem aber auch in Behörden und staatlichen Einrichtungen vorherrschte.

Besonders krass ist die Kriminalisierung der Sinti und Roma in Bayern. Dort gilt bis 1970 eine sogenannte „Landfahrerordnung“, die Grundrechte von Sinti und Roma einschränkt. Bei der bayerischen Kriminalpolizei sammelt eine „Landfahrerzentrale“ bis 1965 persönliche Daten von Sinti und Roma aus dem gesamten Bundesgebiet. Dort verwendet man ohne Skrupel auch die Akten der „Rassenhygienischen Forschungsstelle“ aus der NS-Zeit für die Polizeiarbeit.

Hinzu kommen die personellen Kontinuitäten zur NS-Zeit in Polizei und Justiz. So arbeiten in der „Landfahrerzentrale“ der bayerischen Kriminalpolizei nach 1945 Beamte, die unmittelbar am Völkermord an den Sinti und Roma beteiligt waren, ohne jemals dafür belangt worden zu sein. Der Hungerstreik in Dachau richtet sich im Kern gegen diese Kontinuität der Kriminalisierung und verlangt die Herausgabe der „Landfahrerkartei“. In diesem Punkt mauert das bayerische Innenministerium. Die „Landfahrerkartei“ sei längst vernichtet, Akten könnten daher nicht übergeben werden. Auch zu einer politischen Verurteilung der Tätigkeit der „Landfahrerzentrale“ kann sich das Innenministerium damals nicht durchringen.

Motivation aus der Familiengeschichte

Ein maßgeblicher Antrieb für Romani Roses Engagement ist seine Familiengeschichte. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in Heidelberg geboren, erfährt er früh, dass 13 seiner unmittelbaren Verwandten in Konzentrationslagern ermordet worden sind, darunter auch seine Großeltern im Vernichtungslager Auschwitz und im Konzentrationslager Ravensbrück. Sein Vater, Oskar Rose, hat die NS-Zeit in einem Versteck überlebt. Romani Roses Onkel, Vinzenz Rose, hat das Vernichtungslager Auschwitz sowie medizinische Experimente im Konzentrationslager Natzweiler und die Zwangsarbeit im KZ Neckarelz/Obrigheim überlebt.

Vinzenz Rose gründet im Jahr 1972 die erste Selbstorganisation deutscher Sinti, in der Romani Rose schon als junger Erwachsener mitarbeitet. Immer stärker wächst er in die Bürgerrechtsarbeit hinein. 1979 wird Romani Rose zum Vorsitzenden des Verbands Deutscher Sinti gewählt. Der Hungerstreik in Dachau macht ihn international bekannt. Diese Popularität nutzt er für die erfolgreiche Bürgerrechtsarbeit, die er ab 1982 bis heute als Vorsitzender des Zentralrats der Sinti und Roma leitet.

Logo des Zentralrat Deutscher Sinti & Roma

Radikaler Protest einer Minderheit

Ein Hungerstreik ist eine radikale Protestform, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts verbreitet, zunächst vor allem als eine Möglichkeit von politischen Gefangenen, auf ihre Situation und ihre politischen Ziele aufmerksam zu machen. Ab den 1960er Jahren etabliert sich der Hungerstreik als Teil einer politischen Protestkultur auch außerhalb von Gefängnissen. Er wird bis heute von unterschiedlichen Bewegungen genutzt, nicht alle verfolgen dabei demokratische oder menschenrechtliche Ziele. Kann denn ein Protest vorbildhaft sein, der politischen Druck erzeugt, indem die Bereitschaft signalisiert wird, Schaden am eigenen Körper und sogar den Tod hinzunehmen?

Im Falle des Hungerstreiks von 1980 in Dachau wird deutlich, wie sehr die Bewertung verschiedener Protestformen vom historischen Kontext abhängt. Sinti und Roma sind im Nachkriegsdeutschland eine marginalisierte Minderheit, die während der NS-Zeit unvorstellbares Leid erfahren hat, das aber in dieser Zeit überhaupt nicht anerkannt, geschweige denn entschädigt wird. An die Möglichkeit, Entschädigung für erlittenes NS-Unrecht zu bekommen, ist für diese Gruppe überhaupt nicht zu denken, auch weil Polizei und Justiz damals beharrlich Akten unter Verschluss halten, die zum Nachweis der Verfolgung nötig sind.

Die sich formierende Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma versucht zunächst mit Demonstrationen und Flugblättern gegen die Marginalisierung, Ausgrenzung und Kriminalisierung dieser Minderheit vorzugehen. Aber die Proteste und Aktionen verhallen weitgehend ungehört und ohne Echo in der Öffentlichkeit. Nach wie vor werden Sinti und Roma von Polizei und Justiz als kriminell und „asozial“ betrachtet, der geschehene Völkermord wird negiert. Die Gruppe um Romani Rose versucht schon vor dem Hungerstreik, mit dem bayerischen Innenministerium ins Gespräch zu kommen, wird aber brüsk abgewiesen.

Diskriminierung endet nicht über Nacht

Daher entschließen sich die zwölf, ihre eigene Gesundheit aufs Spiel zu setzen, um das Nicht-wahrgenommen-Werden zu durchbrechen. Und das am Ort der NS-Verbrechen, auf die man aufmerksam machen will: dem ehemaligen Konzentrationslager Dachau vor den Toren Münchens. Die Strategie ist mutig, genial und sie geht auf: Endlich werden die deutsche und die internationale Öffentlichkeit auf das Schicksal der Sinti und Roma aufmerksam.

Entscheidende Zäsur – 1982 erkennt der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt die nationalsozialistischen Verbrechen an den Sinti und Roma erstmals als einen Völkermord aus Gründen der Rasse an.

Aber nicht die Strategie ist das Vorbildliche, sondern das Verhalten der Streikenden in dem Moment, als es zu Gesprächen mit dem bayerischen Innenministerium kommt. Romani Rose und seine Gruppe sind klug genug, den Streik zu beenden, obwohl längst nicht alle Forderungen erfüllt sind. Romani Rose weiß in diesem Moment: Die Diskriminierung der Sinti und Roma wird nicht über Nacht aufhören. Aber ab jetzt wird sich nach und nach etwas ändern, der geschlossene Kompromiss mit den staatlichen Stellen wird dazu führen, dass die Bürgerrechtsarbeit ausgeweitet und auf andere Füße gestellt werden kann. Unbeugsamkeit signalisieren, im richtigen Moment nachgeben können und dann kontinuierlich weiterarbeiten und die großen Ziele nicht aufgeben – diese Mischung führt bei Romani Rose zu einem demokratischen Erfolg.

Bei diesem Text handelt es sich um einen Auszug aus der Publikation Vorbilder der Demokratiegeschichte. Handlungen und Einstellungen, die beeindrucken und Orientierung geben können. Diese und weitere Veröffentlichungen von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. können kostenfrei in der Geschäftsstelle bestellt werden und stehen hier zum Download zur Verfügung.

Artikel Drucken
Markiert in:,
Über uns 
Dennis R. arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V.

0 Kommentare

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert