Demokratiegeschichten

„Nein, Nein, Niemals! Fort mit dem Verbrecher! Freiheit!“

Zum Start des „(Online-) Gedenkbuchs der Sozialdemokratie 1933 bis 1945

„Sie werden euch in einen neuen Weltkrieg hineinheben. […] Er [Hitler] ist der Kriegshetzer, der Jugendverderber, der Kameradenmörder. […] Dieser Mann will die Billigung und Bestätigung seiner Verbrechen von euch. Darauf gibt es nur eine Antwort: Nein, Nein, Niemals! Fort mit dem Verbrecher! Freiheit!“

Diese Sätze entstammen einem Flugblatt, das anlässlich der Wahl und Volksabstimmung am 19. August 1934 in München verteilt wurde und der Gestapo in die Hände fiel. Diese vermerkte handschriftlich darauf: „SPD-München, 19.8.1934“. 

Die spektakuläre Verteilaktion war von den „Roten Rebellen“ durchgeführt worden, einer Gruppe von sozialdemokratischen Widerstandskämpfer_innen in München. Die aus ehemaligen Angehörigen des sozialdemokratischen Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold und der Arbeitersportvereine zusammengesetzte Gruppe um den Hotelkellner Josef Lampersberger und den Reichsbahnarbeiter Franz Faltner tat sich aber nicht nur mit mutigen und äußerst riskanten Flugblattaktionen wie im Umfeld gut besuchter Fußballspiele hervor. Ihre Mitglieder erledigten außerdem Kurierdienste für die im tschechischen Grenzgebiet tätige Exil-SPD und sammelten bereits ab 1934 Fotos, um die Verbrechen im KZ Dachau zu dokumentieren. Zudem planten sie einen Bombenanschlag auf dem Münchner Hauptbahnhof. Dabei sollte niemand verletzt, aber ein deutliches Zeichen des Widerstands gesetzt werden: Die Nazis sollten mit Gegenwehr rechnen! 

1935 enttarnte ein Denunziant, der sich in den Reihen der Gruppe befand, diese. Die Gruppe und ihr Umfeld, darunter Faltners Ehefrau Anna, wurden zu langjährigen Zuchthaus- und KZ-Strafen verurteilt. Ihre Widerstandsaktivitäten, Biografien und Schicksale sind im „Gedenkbuch der Sozialdemokratie 1933 bis 1945“ dokumentiert. Dieses ist nun über das Portal zur Geschichte der Sozialdemokratie des Archivs der sozialen Demokratie (AdsD) der Friedrich-Ebert-Stiftung zugänglich. Das Gedenkbuch begreift sich als digitaler historischer Erinnerungsort, der die Erinnerung an diejenigen Sozialdemokrat_innen wach hält, die für Freiheit, Demokratie und Menschlichkeit ihr Leben gefährdeten oder gar verloren. Das Datenbankprojekt möchte Biografien verfolgter Sozialdemokrat_innen in der NS-Zeit sichern, bündeln und ergänzen und sie für die Öffentlichkeit sichtbar machen.  

Verfolgung und Widerstand

Sozialdemokrat_innen gehörten schon vor 1933 zu den entschiedensten Gegner_innen des Nationalsozialismus. Die Zeit der Verfolgung begann daher für die Sozialdemokratie unmittelbar nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten. Ihre Organisationen wurden zerschlagen, ihre Mitglieder verloren ihre politischen Ämter. Viele flohen ins Ausland, tausende wurden verhaftet, verschleppt, misshandelt und in Gefängnissen und Konzentrationslagern ermordet. 

Die im Online-Gedenkbuch dokumentierten Biografien geben eindrucksvoll Zeugnis vom Ausmaß des Nazi-Terrors von Verfolgung, Verrat, Denunziation, Lagerhaft und Mord von politisch Andersdenkenden. Und sie zeigen den Mut und die Standhaftigkeit derjenigen, die sich den Verbrechen der Nationalsozialisten entgegenstellten – aus sozialdemokratischen Grundüberzeugungen.  

Als demokratische Massenpartei war die Sozialdemokratie jedoch nur wenig auf die Illegalität vorbereitet. Und dennoch leisteten Sozialdemokrat_innen in großer Zahl Widerstand gegen Hitler. Sie erhielten beispielsweise organisatorische Strukturen und bestehende Kontakte aufrecht, organisierten Hilfsmaßnahmen für Verfolgte und bauten illegale Netzwerke auf. All dies mit dem Ziel, den eigenen Zusammenhalt zu bewahren und Aufklärung über den verbrecherischen und menschenverachtenden Charakter des NS-Regimes zu leisten. Aktiv Widerstand leisteten dabei nicht nur prominente Politiker_innen und Gewerkschafter_innen. Sondern – was auch das Gedenkbuch deutlich macht – auch und gerade kleine Gruppen und einzelne Personen, die den Nationalsozialismus ablehnten und unter Gefährdung ihres Lebens bekämpften.

Freiheit und Demokratie verteidigen – damals wie heute

Die im Gedenkbuch dokumentierten Biografien zeigen darüber hinaus die Tatkraft und Stärke jener Sozialdemokrat_innen, die Gestapohaft und Konzentrationslager überlebten und sich nach 1945 trotz ihrer schweren Leiden für den Wiederaufbau der Demokratie einsetzten. Ihre eigene Widerstandstätigkeit und Verfolgungserfahrung mussten sie dabei oft verschweigen. Denn besonders beliebt waren ihre Lebensgeschichten im unmittelbaren Nachkriegsdeutschland nicht.

In einer Zeit, in der sich die Deutschen möglichst wenig an die gerade vergangenen Jahre erinnern wollten, sich oft selbst als Opfer des Nationalsozialismus fühlten, dem so viele begeistert zugejubelt hatten, hielt mutiger Widerstand wie der der Roten Rebellen dem Land einen Spiegel vor, in den die meisten Deutschen nicht blicken wollten. Die über 150-jährige Geschichte des sozialdemokratischen Einsatzes für Demokratie – gegen Unterdrückung, Nationalismus, Autoritarismus und Totalitarismus – ist Auftrag bis heute, Freiheit und Demokratie gegen diejenigen zu verteidigen, die sie aushöhlen und bekämpfen wollen.  

Künftige Entwicklung des Gedenkbuchs

Im Zuge eines ersten regionalen Projekts wurden 463 Biografien von verfolgten Sozialdemokrat_innen aus München eingespeist. Grundlegend waren hierfür insbesondere die Recherchearbeiten und technischen Grundlegungen des Vereins für Freiheit und Demokratie e.V. Dieser hat sich bis zu seiner bevorstehenden Auflösung um die Bewahrung des Vermächtnisses des Widerstands der SPD und ihrer Umfeldorganisation in München verdient gemacht.

Perspektivisch soll das Online-Gedenkbuch mehrere regionale Schwerpunkte umfassen. Zudem soll es analoge und digitale Publikationen und Verzeichnisse aufnehmen, die sich mit der Verfolgung von Sozialdemokrat_innen befassen. Als ein über mehrere Jahre angelegtes Projekt erfolgt der weitere Ausbau des Online-Gedenkbuchs durch das AdsD in enger Kooperation mit dem Arbeitskreis ehemals verfolgter und inhaftierter Sozialdemokraten (AvS). Die biografischen Informationen können für die regionale und lokale Erinnerungsarbeit, für den Schulunterricht und die politische Bildung nutzbar gemacht werden. Und auch neue Forschungsarbeiten zum Thema Widerstand gegen den Nationalsozialismus anregen. 

Dr. Peter Beule ist Referent für die Geschichte der Sozialen Demokratie im Referat „Public History“ im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung.

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