Demokratiegeschichten

Der isländische Frauenstreik 1975

Am 24. Oktober 1975 legten 90 Prozent der Frauen in Island ihre Arbeit nieder. Die mehr als 20.000 Frauen versammelten sich zu Demonstrationen statt, wie sonst als selbstverständlich erachtet, sich oft auch noch neben einer Erwerbstätigkeit, um die Hausarbeit und Kinderbetreuung zu kümmern.

… Gleichberechtigung, eine faire und gleichwertige Bezahlung ihrer Arbeit und bessere Kinderbetreuung. Das forderten die Protestierenden.
Sie wollten deutlich machen, wie sehr das Land von Frauen und ihrer Arbeit abhängig ist.

Feminismus und Gleichberechtigung in Island

1915 gehörte Island zu den ersten Ländern, die das Frauenwahlrecht einführten. Sieben Jahre später, bei den Parlamentswahlen 1922, zog Ingibjörg Bjarnason als erste Frau ins Parlament ein.

Im Jahr 1975 war der Anteil von Frauen im isländischen Parlament mit nur fünf Prozent allerdings nicht viel höher als zu Zeiten der ersten Abgeordneten. Zudem verdienten Frauen wesentlich weniger als Männer. Beispielsweise in Berufen im Einzelhandel wurde Frauen bis zu 25 Prozent weniger Gehalt gezahlt als ihren männlichen Kollegen. Zusätzlich erwartete man von ihnen, sich größtenteils alleine um Haushalt und die Kindererziehung zu kümmern. Die Stellung von Frauen in Gesellschaft und Politik in Island hatte sich in den 60 Jahren nach der Einführung des Frauenwahlrechts also kaum weiterentwickelt.

Eine feministische Gruppe in Island, die sich gegen diese Benachteiligungen stellte, waren die „Roten Socken/Rødstrømpern“ (Ableger einer revolutionär-feministischen Gruppe aus den USA). Sie verschafften sich in den Siebzigerjahren durch provokante, aber humorvolle Aktionen das Gehör, aber auch oft die Empörung der isländischen Gesellschaft.

Die Organisation des Streiks

Die Rødstrømpern hatten bereits 1970 einen Frauenstreik gefordert, welcher jedoch daran scheiterte, dass ihnen die Unterstützung der gemäßigteren Frauengruppen fehlte. Als jedoch Gerður Steinþórsdóttir im Sommer 1975, dem Internationalen Jahr der Frau, auf einem Kongress der isländischen Frauenverbände vorschlug, die Protestaktion als „Frauenruhetag/Kvennafrídagurinn“ zu stilisieren, statt als Streik, fand die Idee auch bei den moderaten Verbänden Anklang.

Englischsprachiges Flugblatt zum 24. Oktober 1975; Quelle: Kvennasögusafn (Women’s History Archives) KSS 1

Über Flugblätter und Radioansagen wurde daraufhin die Bevölkerung über den Streik informiert und mobilisiert. Allgemein traf die Ankündigung des Streiks auf breite gesellschaftliche Solidarität. Unter anderem vonseiten der Gewerkschaften und der Presse erhielten sie Unterstützung und Zuspruch. Vereinzelte Arbeitgeber kündigten zwar an, Frauen zu entlassen, die sich am Streik beteiligen, nahmen dies jedoch schnell wieder zurück, als sie feststellten, wie großflächig die Unterstützung der Aktion war.

Ein langer Freitag (für die isländischen Männer)

Endlich, am 24. Oktober 1975, war der Tag gekommen. Mit der Ausnahme von medizinischem Personal trat der Großteil der isländischen Frauen in den Streik.

Besonders große Auswirkungen hatten die Streiks auf den Telefondienst, welcher praktisch zum Erliegen kam ohne die weiblichen Mitarbeiterinnen. Zudem wurden Tageszeitungen nicht veröffentlicht oder nur in einer verkürzten Ausgabe herausgegeben. Auch die meisten Restaurants, Läden, Theater, Kinos und Schulen sowie Kindergärten konnten am 24. Oktober nicht öffnen. Die isländische Fluggesellschaft musste ihre Flüge streichen, da die Stewardessen fehlten, und in den Banken arbeitete, um einen Notbetrieb zu gewährleisten, die rein männliche Leitungsebene an den Bankschaltern. Frauen, die zu Hause arbeiteten, überließen Haushalt und Kinder den Männern. Väter und Ehemänner, die den Streik vorher nur belächelt hatten, standen nun vor einer ihnen bisher unbekannten Herausforderung. Noch Jahrzehnte später wird der 24. Oktober bei ihnen als der „Lange Freitag“ bekannt sein.

Viele der Streikenden versammelten sich auf dem zentralen Platz in Reykjavik, dem Lækjartorg-Platz, mit Protestschildern und sangen gemeinsam Lieder. Mit insgesamt 20.000 bis 25.000 Teilnehmenden, zu denen auch einige Dutzend Männer gehörten, war es die größte Demonstration, die das Land bis dahin erlebt hatte.

Nach dem Streik ist vor dem Streik

Obwohl das Leben nach dem „Frauenruhetag“ erst einmal so weiterging wie zuvor, war es doch ein entscheidender Katalysator der Veränderung und der entscheidende Anstoß für Islands Aufstieg zum Vorreiter der Gleichstellung.

Durch den Streik realisierten viele Frauen, was sie gemeinsam erreichen können im Kampf um Gleichberechtigung. Die männliche Hälfte der Bevölkerung lernte dagegen wie wichtig und vor allem unersetzlich die Arbeit der Frauen ist, vor allem auch die unbezahlte Care-Arbeit. Diese Erkenntnisse und der Sinneswandel innerhalb der isländischen Bevölkerung sorgten nach und nach für Veränderungen in der Politik.

Ein Jahr nach dem Streik verabschiedete das Parlament ein erstes Gesetz zur Gleichberechtigung. 1980 folgte dann ein weiterer historisch bedeutsamer Moment. Island wählte Vigdís Finnbogadóttir zur Präsidentin und damit zum ersten demokratisch gewählten weiblichen Staatsoberhaupt der Welt.

Heute führt Island seit über zehn Jahren den Gender Gap Index des Weltwirtschaftsforums an, als das Land mit der weltweit geringsten Ungleichheit zwischen den Geschlechtern und das Land, das als einziges über 90 Prozent der geschlechtsspezifischen Unterschiede beseitigt hat.

Die Geschichte wiederholt sich

Der 24. Oktober ist inzwischen für viele zu einem feministischen Kampftag geworden, der jedes Jahr mit Demonstrationen und Protestaktionen begangen wird. Vergleichbare Streikaktionen wie der „Frauenruhetag 1975“ fanden 1985, 2005, 2010, 2016, 2018 und 2023 statt.

„Wenn Island das Paradies für Frauen ist, habe ich Angst, wie der Rest der Welt aussieht“

Drífa Snædal (Mitorganisatorin des Frauen*streiks am 24. Oktober 2023)

Trotz Islands Ruf als das Land der Gleichberechtigung erlebt etwa jede vierte weiblich gelesene Person in Island mindestens einmal sexualisierte Gewalt. In vielen Berufen werden FLINTA*-Personen nach wie vor diskriminiert und benachteiligt. Denn trotz guter Ausbildung und einem Equal-Pay-Gesetz verdienen sie im Schnitt 21 Prozent weniger als Männer. Berufe, in denen viele FLINTA*-Personen arbeiten, werden nämlich wie in vielen Ländern systematisch schlechter entlohnt. FLINTA*-Personen mit einer Migrationsgeschichte trifft es besonders stark.

Mit dem bisher größten isländischen Frauen*streik am 24. Oktober 2023, 48 Jahre nach dem ersten Streik, forderten die etwa 100.000 Protestierenden erneut, dass ihre Arbeit wertgeschätzt und angemessen bezahlt wird. Auch auf das Problem sexualisierter sowie häuslicher Gewalt machten sie aufmerksam.

Mediale Verarbeitung

Kinderbuch: „Der Tag, als die Frauen streikten“

Cover: „Der Tag, als die Frauen streikten“ (von Autorin und Illustratorin Linda Ólafsdóttir)

„Der Tag, als die Frauen streikten“ ist ein zeitgeschichtliches Sachbilderbuch der Autorin Linda Ólafsdóttir aus dem Jahr 2024.

Die Protagonistinnen des Buches sind Anna und ihre Mutter, die sich darauf vorbereiten, an einer Frauenrechtsdemonstration teilzunehmen. Annas Mutter erzählt dabei von ihren Erinnerungen an den isländischen Frauenstreik 1975. Es geht um die Bedeutung, die dieser historische Moment für die isländische Gesellschaft hatte und wie sie diesen als Kind wahrgenommen hat. Anna ist begeistert von den Erzählungen ihrer Mutter und ist motiviert, den Protest gemeinsam weiterzuführen.

Linda Ólafsdóttir vermittelt für Kinder anschaulich, wie wichtig demokratische Teilhabe ist und warum Frauen damals aber auch heute noch für ihre Rechte kämpfen müssen. Damit sensibilisiert sie die Lesenden für Werte wie Gleichberechtigung sowie soziale Fairness und kräftigt dabei ihr Gerechtigkeitsempfinden.

Dokumentarfilm: „Ein Tag ohne Frauen“

Anlässlich des 50. Jubiläums des Frauenstreiks in diesem Jahr ist der Dokumentarfilm „Ein Tag ohne Frauen“ der Filmemacherinnen Hrafnhildur Gunnarsdóttir und Pamela Hogan in die deutschen Kinos gekommen. Zum ersten Mal erzählen hier die Zeitzeuginnen selbst von ihrem Leben in Island in den 70er-Jahren, ihrem Kampf um Gleichberechtigung und dem entscheidenden Streik am 24. Oktober 1975.

Frauenstreik in Island: Die Revolution der roten Strümpfe - DER SPIEGEL 
Frauenstreik auf Island - Hans-Böckler-Stiftung
"Ein Tag ohne Frauen": Zeitzeugin über Islands soziale Revolution | NDR.de - Kultur - Film
The day Iceland's women went on strike - BBC News
Iceland: Women Strike - The New York Times
NDR Kultur - Das Journal: 'Ein Tag ohne Frauen': Doku über Islands Frauen-Streik - hier anschauen
https://www.spiegel.de/ausland/gleichberechtigung-in-island-warum-die-frauen-streiken-a-849a1ccc-a766-4dc4-9bb4-4d2b31dfc2db
https://www.jugendliteratur.org/buch/der-tag-als-die-frauen-streikten-4384
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Über uns 
Anya H. arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. als studentische Hilfskraft.

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