Es ist früh am Morgen des 4. Juni 1980. Gegen 6:00 Uhr beginnt die niedersächsische Polizei damit, ein von AKW-Gegner:innen besetztes Gelände in einem Wald in der Nähe des Dorfes Gorleben im Wendland mit Stacheldraht zu umzäunen. Anschließend bereiten sich die Uniformierten darauf vor, das Gebiet zu räumen.
Der Grund: Die Besetzer:innen haben unter anderem gegen das Landeswaldgesetz, die Bauordnung, das Feld- und Forstordnungsgesetz und das Bundesmeldegesetz verstoßen. Doch die Polizei wird an diesem Tag nicht nur eine Besetzung beenden, sondern das Ende der „Republik Freies Wendland“ besiegeln.
Endlager gesucht, Protest gefunden
In den 1970er Jahre beginnt in der Bundesrepublik die Suche nach einem geeigneten Endlager für radioaktiven Abfall. Hierfür kommen etwa in Niedersachsen verschiedene Salzstöcke in Frage, darunter der Salzstock Gorleben-Rambow. Das Vorhaben der niedersächsischen Landesregierung, dort geologische Erkundungen durchzuführen, sieht sich aber schnell mit lokalen Widerständen konfrontiert.
Im März 1977 organisieren Atomkraftgegner:innen eine Großkundgebung mit bis zu 20.000 Beteiligten. Im selben Jahr errichten sie ein Sommercamp in Gorleben und ziehen 1979 im sogenannten Gorleben-Treck nach Hannover. Bis zu 100.000 Menschen gehen dabei auf die Straße. Doch die niedersächsische Regierung bleibt bei ihrem Kurs.
Die erste Tiefbohrung, die die Eignung des Salzstocks in Gorleben feststellen soll, beginnt im Januar 1980. Es kommt zu kleinen Besetzungsaktionen bei den damit einhergehenden Waldrodungen. Doch den Aktivist:innen wird schnell klar, dass es mehr braucht als das.
Anti-AKW-Hochverrat
Öffentlich rufen sie Anfang 1980 zu einer Großdemonstration auf und machen sich sodann an die Vorbereitungen. Als Ziel ihrer Protestaktion machen sie die geplante „Tiefbohrstelle 1004“ aus, unter der die Regierung ein geeignetes Endlager vermutet.
Die Besetzungsaktion beginnt schließlich am 3. Mai 1980 im Rahmen einer Demonstration mit rund 5.000 Atomkraftgegner:innen aus der gesamten Bundesrepublik. Ausgerüstet mit Werkzeug, Schlafsäcken, Zelten und sonstigen Baumaterialien zieht der Demonstrationszug zur geplanten Tiefbohrstelle 1004 zwischen den Dörfern Gorleben und Trebel. Die Demonstrierenden besetzen das Gelände und rufen noch am selben Tag die „Republik Freies Wendland“ aus. Für Teile der niedersächsischen Regierung ist dies nicht weniger als Hochverrat.
Gelebte Basisdemokratie
In Kürze errichten die Besetzer:innen ein provisorisches Dorf mit etwa 120 Zelten und Hütten aus Holz, Lehm und Strohballen. Die Gemeinschaft errichtet außerdem eine Großküche, eine Kirche, eine Krankenstation, Toiletten- und Badeanlagen, einen Friseursalon und eine Mülldeponie sowie ein sogenanntes Freundschaftshaus mit Platz für rund 400 Personen.
Hier finden in den nächsten Wochen immer wieder Veranstaltungen statt, etwa Diskussionsrunden, Lesungen und Rockkonzerte. Warmes Wasser erhalten die Protestierenden durch einen Tiefbrunnen, den ein Windrad betreibt, und eine Solar-Warmwasseranlage.
Am Zufahrtsweg zum Dorf gibt es außerdem eine „Grenzübergangsstation“ mit Schlagbaum sowie nebenan ein Informationshaus. Hier können sich Interessierte für 10 DM einen sogenannten Wendenpass ausstellen und mit einem Einreisestempel versehen lassen. Der Sender „Radio Freies Wendland“ sendet ab Mitte Mai von einem Turm im Hüttendorf aus.
Etwa 300 bis 500 ständige Besetzer:innen leben in der Republik Freies Wendland und organisieren ihre Gemeinschaft basisdemokratisch. So gibt es zwar einen Sprecherrat, Entscheidungen treffen die Bewohner:innen aber gemeinschaftlich im Plenum.
Tourismusziel Hüttendorf
An den Wochenenden tummeln sich bis zu 5.000 Menschen zwischen den Hütten der kleinen Republik, darunter Unterstützer:innen, neugierige Schaulustige, aber auch Prominente aus Politik, Kunst und Kultur. Weitere Unterstützung erhalten die Anti-Atomkraft-Aktivist:innen von Anwohner:innen aus der Gegend in Form von Bauholz und Lebensmitteln.
Trotz des allgegenwärtigen Gefühls, eine Utopie zu leben, schwebt eine mögliche Räumung wie ein Damoklesschwert über dem Hüttendorf, auch weil der niedersächsische Innenminister keinen Hehl daraus macht, dass es früher oder später zum „Tag X“ kommen werde. Am 4. Juni, knapp einen Monat nach Ausrufung der Wendland-Republik, kündigt sich deren Ende dann tatsächlich an.
Passiver Widerstand und Gesang
Die niedersächsische Polizei, unterstützt von anderen Länderpolizeien und dem Bundesgrenzschutz, fährt an jenem Tag große Geschütze auf. Mit bis zu 7.000 Beamten im Einsatz ist es der bis dahin größte Polizeieinsatz der Nachkriegsgeschichte. Dem zuvor festgelegten Prinzip des passiven Widerstands folgend, kommen die zu diesem Zeitpunkt knapp 2.500 – manche Quellen sprechen von 4.000 – anwesenden Besetzer:innen auf dem Dorfplatz zu einer finalen Sitzblockade zusammen.
Mehrmals fordert die Staatsgewalt die Besetzer:innen erfolglos zum Verlassen des Dorfes auf. Während die Polizei, unter anderem mit Spezialeinheiten, schließlich gegen 11:00 Uhr damit beginnt, eine(n) nach dem anderen davonzutragen, singen die Demonstrierenden von einem Akkordeon begleitet Friedenslieder.
Naturgemäß sind sich die Quellen nicht einig bezüglich der Frage, inwiefern und in welchem Ausmaß die Polizei Gewalt einsetzt. Doch ein Blick in die Filmaufnahmen der Zeit reicht für den Verdacht aus, dass der eine oder andere gezückte Schlagstock wohl auch sein Ziel findet. Die Demonstrierenden lassen sich davon aber nicht aus der Ruhe bringen und bleiben friedlich.
Eine legendäre Besetzung
Nach Beendigung der Räumung dankt die Polizei den Ex-Besetzer:inen jedenfalls öffentlich für deren Gewaltlosigkeit. Bulldozer reißen nach dem Abführen ihrer Bewohner:innen das Hüttendorf ein. Gegen 20:00 Uhr ist die Republik Freies Wendland Geschichte. In den folgenden Tagen und Wochen kommt es zwar bundesweit zu zahlreichen Solidaritäts- und weiteren Protestaktionen. An der Einrichtung der Tiefbohrstelle 1004 ändert dies allerdings nichts.
Die Freie Republik Wendland genießt bis heute im Anti-Atomkraft-Lager fast schon mythischen Legendenstatus. Die Besetzung gilt der Bewegung als historische Zäsur und das grüne Republikwappen sowie der Wendenpass sind bis heute als Souvenirs und Erkennungsmerkmal der Umweltbewegung beliebt.
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