Demokratiegeschichten

Gastbeitrag: Protest und Widerstand gegen die Demontage der Chemischen Werke Bergkamen 1946-1949 (I)

Im Jahr 1937 errichtete die Essener Steinkohle AG eine chemische Fabrik zur Kohleveredelung auf dem Gelände der Steinkohlenzeche Grimberg I/II in der damaligen Gemeinde Bergkamen, Kreis Unna. Die Inbetriebnahme erfolgte 1939.

In dieser Anlage, wie auch in drei weiteren in Castrop-Rauxel, Dortmund und Oberhausen-Holten im Ruhrgebiet, wurden nach dem Fischer-Tropsch-Verfahren aus Steinkohlenkoks Ausgangsstoffe für die chemische Industrie gewonnen, wie zum Beispiel Dieselöl, Benzin, Treibgas oder auch Speisefette.

Während des Zweiten Weltkriegs war diese Anlage sehr oft Ziel der alliierten Bombenangriffe, so dass die Produktion gegen Ende des Krieges 1944/45 in Bergkamen ganz ausfiel. Unmittelbar nach dem Kriegsende begann man mit Genehmigung der Alliierten mit dem Wiederaufbau der Chemischen Werke Bergkamen.

Demzufolge überraschten die Demontagepläne der Alliierten die Bevölkerung vor Ort und in den umliegenden Gemeinden besonders. Ab Ende März 1946 riefen sie in den folgenden Jahren immer wieder Wellen von Protesten und Widerstand auf allen Ebenen der Gesellschaft und der Politik, örtlich und regional hervor, so dass sich die Alliierten bis in die Staatsspitzen den Auseinandersetzungen gegenübersahen.

Eine erste Welle von Protesten gegen die Demontage der Chemischen Werke 1946/47

Eine denkwürdige Besprechung mit Vertretern aus der Wirtschaft, der Verwaltung, von den Betriebsräten und der Politik fand am 7. September 1946 im Rathaussaal der Stadt Unna statt. Einziger Tagesordnungspunkt war die Inbetriebnahme der Chemischen Werke Bergkamen. Anwesend waren der Regierungspräsident Fritz Fries aus Arnsberg und der Minister für Ernährung und Landwirtschaft, Dr. Hermann Heukamp, Düsseldorf.

Außerdem waren die Bürgermeister bzw. die Stadtdirektoren der Städte Witten, Unna, Bergkamen und Amt Pelkum anwesend, Vertreter des Arbeitsamtes sowie Herr Wehr von der Essener Steinkohle, Bernhard Löpmann und Hermann Schwenke von den Chemischen Werken Bergkamen. Vertreter der Firma Imhausen und Co. aus Witten, die Ausgangsprodukte der Chemischen Werke zu Fetten und Speisefetten herstellten, waren ebenfalls gekommen, weil sie seinerzeit nur noch aus geringen Beständen produzieren konnten.

Mit dem heutigen Vokabular würde man diese Zusammenkunft als eine konzertierte Runde bezeichnen. Das war sie 1946 auch, aber ohne politische Beschlusskraft, sondern abhängig von den Entscheidungen der britischen Militärbehörde. Ihre Protestresolution verhallte ungehört, genau wie die von zahlreichen anderen Gremien auf Stadt- und Kreiseben und aus der Wirtschaft:

Im Oktober 1947 war es amtlich. Im revidierten Reparationsplan der Westalliierten blieb das Bergkamener Werk auf der Demontageliste. Am 13. Oktober 1947 beschäftigte sich der Kreistag in Unna mit dieser Angelegenheit. Das Wortprotokoll der Kreistagssitzung lässt sich wie folgt zusammenfassen: Der Abgeordnete Gleisner bat in Anwesenheit des britischen Kreiskommandanten Lieutenant Colonel Baker um das Wort. Anlässlich der Hiobsbotschaft über den Demontagebeschluss für Bergkamen wies Gleisner den Kommandanten auf den „Ernst der Situation“ hin. Gleisner führte aus,

„dass das deutsche Volk von einer Panik ergriffen ist. […] Millionen, die nach Gesetz und Ordnung zu handeln gewohnt waren, sind gezwungen, Gesetz und Ordnung zu durchbrechen […] Es ist Tatsache geworden, dass die Menschen nicht mehr mit dem Kopf, sondern nur noch mit dem Bauch denken.“[2]

Das Washingtoner Abkommen und erneute Proteste

Alle folgenden Gespräche mit den westalliierten Besatzungsmächten, die Eingaben und Resolutionen der deutschen Bevölkerung, der Verwaltungen und der politischen Vertretungen waren vergebens. Im April 1949 beschlossen die Militärregierungen im Washingtoner Abkommen die Demontage der Chemischen Werke Bergkamen und der drei anderen Anlagen im Ruhrgebiet, neben vielen anderen Industrieanlagen.

Der Befehl zur Demontage in Bergkamen wurde vom Kreiskommandanten Lieutenant Colonel Baker am 4. Juni 1949 der Betriebsleitung persönlich übergeben. Am 8. Juni rückten Arbeiter einer Dortmunder Firma in Bergkamen an, die von der der Militärregierung durch den Kreiskommandanten vor Ort mit der Durchführung der Demontage beauftragt worden waren. Sofort entwickelte sich ein kollektiver Protest, auch körperlicher Widerstand. Die betroffene Bevölkerung und streikende Arbeiter gingen auf die Straße und im wahrsten Sinn des Wortes auf die Barrikaden.

Begleitet wurden sie von Protesten der ganzen Gesellschaft, vom Hirtenbrief des Kölner Bischofs über Stellungnahmen von Gewerkschaften und der Industrie bis hin zu verschiedensten politischen Gremien. Auch die nationale und internationale Presse erhob ihre Stimme gegen die Demontage. Colonel Baker beklagte sich bei seinen Vorgesetzten, dass die gesamte Weltpresse über den Fall berichte, die Informationsabteilung der Militärregierung vor Ort aber viel zu schwach vertreten sei. Er hätte sonst „eine Menge an Schwierigkeiten“ verhindern können.[3]

Der Spiegel zitiert Alfred Gleisner, Mitglied des Landtags NRW und des Kreistags Unna: Er sei sicher, „dass die Arbeiterschaft im Ruhrgebiet zu allem entschlossen sei. Niemand soll sich täuschen.“ [4] Und die regionale Zeitung „Westfalenpost“ vom 9. Juni 1949 titelte: „Hände weg von Chemischen Werken“ und im Untertitel: „Monteure wurden mit Tränengas und Gummischläuchen vertrieben“ / „Kreistag protestiert gegen die Demontage in Bergkamen“.  Die „Westfalenpost“ berichtete unter anderem über die Sitzung des Kreistages im Bergkamener Kino und zitierte den Landrat Hubert Biernat, der sagte:

„Der Kreistag habe kein Verständnis für die beabsichtigte Demontage, die keineswegs aus Sicherheits-, sondern aus Konkurrenzgründen durchgeführt werde. Hätten wir gewußt, daß dieses Werk demontiert werden wird, dann hätten wir die 12 Millionen Mark, die für den Wiederaufbau des Werkes ausgegeben wurden, für den Wohnungsbau verwandt.“[5]

Die britische Militärregierung setzte den Bergkamenern ein Ultimatum. Bis zum 12. Juni müssten die Proteste eingestellt sein und die Demontage beginnen, sonst würden die Werke besetzt. In der Nacht des Sonntags, 12. Juni 1949, also bis zum Ablauf des Ultimatums, baute die Belegschaft der Chemischen Werke Bergkamen trotzdem Sperren und Barrikaden auf und versperrte so den Demontagearbeitern am Montag den Zutritt, mit dramatischen Folgen.  Belgische Truppen beendeten als Besatzungsmacht vor Ort die Blockade.  Walter Rotsaert, Presseoffizier des Ersten Belgischen Armeekorps schildert die Vorkommnisse später in der Truppenzeitschrift. [6]  Was ist passiert?

Teil II dieses Beitrags erscheint am 13. Juni hier.


Peter Schäfer ist nach unternehmerischer Tätigkeit und nach langjähriger Zeit als Kommunalpolitiker seit dem Wintersemester 2009/10 im Studium des Alters an der WWW-Münster. Schwerpunkte seines Studium sind Geschichte, Politik und Sozialwissenschaften
Der komplette Aufsatz findet sich hier auf der Publikationsseite der Universität Münster.

Literaturhinweise/Angaben:

[1] Kra UN 10, Nr. 3135.

[2] Kra UN-01-1190, Blatt 198.

[3] Nr. 291: Monatsberichte Colonel Baker an seine Dienststelle, zitiert nach Holtmann: Nach dem Krieg, S. 414-417

[4] „Dann müssen Sie anbauen, Sir! Der Spiegel, 25/1949, S. 5.

[5] Stadtarchiv Hamm, Bestand 2000 C VI/10.

[6] Walther Rotsaert, 1930- 2022, ehemaliger Stabsoffizier der belgischen Streitkräfte in Deutschland, Presseoffizier des Ersten Belgischen Armeecorps, „De Belgische Bezetting in Duitsland“, Archiv der Stadt Bergkamen. Eva Klingebeil, Bergkamen, hat dem Verfasser bei der Übersetzung aus dem Flämischen geholfen.

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