Demokratiegeschichten

Die Ambivalenz von Demokratiegeschichte

Lupenreine Demokrat*innen gibt es nicht.

Ein Satz, der früher oder später immer in unseren Workshops fällt. Was ich damit meine: Selbst bei vermeintlichen Vorzeigedemokrat:innen wird man etwas finden, was aus unserer Perspektive doch nicht so demokratisch ist. Eine Handlung, die gegen demokratische Prinzipien geht. Eine Position, die mit demokratischen Werten nicht vereinbar ist.

Ambivalenzen in Biografien soll man nicht verschweigen, sondern sie ansprechen. Denn Ambivalenz findet man nur in Demokratie, Diktaturen halten diese nicht aus. Sie sind ein Punkt, an dem man sich reibt: Ist das noch Demokratie? Oder ein*e Demokrat*in? Oder schon nicht mehr?

Ein sehr hartes Beispiel ist der 21. November 1922. An diesem Tag wurde Rebecca Ann Latimer Felton zum ersten weiblichen Mitglied des US-Senats vereidigt.

Die Frauenrechtlerin

Rebecca Felton, Foto aus dem Historischen Büro des US-Senats.

Rebecca Ann Latimer wurde 1835 in Decatur, Georgia in einfachen Verhältnissen geboren. Nach ihrem Schulabschluss arbeitete sie als Schriftstellerin und Lektorin. Bereits in diesen frühen Lebensjahren setzte sie sich für das Wahlrecht für Frauen ein.

Für ihren Mann, Dr. William Harrell Felton, leitete sie 1874 eine erfolgreiche Kampagne für das Repräsentantenhaus. Unter anderem schrieb sie Zeitungsartikel und Kommentare, oft unter Pseudonymen.

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Logo der Organisation, das weiße Band steht für Reinheit.

1886 trat Latimer Felton der Woman’s Christian Temperance Union bei. Diese war Ende des 19. Jahrhunderts die größte Frauenorganisation der USA. Auch ihre Schwester, Mary Latimer McLendon, war lange Zeit für diese Organisation aktiv. Die Woman’s Christian Temperance Union setze sich beispielsweise für ein Alkoholverbot, aber eben auch für die Rechte von Frauen und Sozialreformen ein.

Einige der Rechte, die Latimer Felton für Frauen einforderte, sind heute in vielen Demokratien gegeben. . Dazu gehört etwa das Wahlrecht. Auch Zugang zu Bildung in Schulen und Universitäten (wenn auch manchmal nur theoretisch). An gleicher Bezahlung für gleiche Arbeit von Frauen und Männern scheitert es noch an vielen Stellen. Die Wertschätzung für und Anerkennung von Haus- und Pflegearbeit, die oft von Frauen geleistet wird, fehlt auch oft. Latimer Felton könnte heute an viele Probleme, die sie damals bemängelte, nahtlos anknüpfen.

Die Senatorin

Latimer Felton wurde nicht zur Senatorin gewählt, sondern ernannt.

Der 19. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika (Frauenwahlrecht) von 1920. Foto:
Library of Congress, via Dr. William J. Ball’s Images of American Political History.

1922 fanden Wahlen zum US-Senat statt. Kurz vor der Wahl starb der amtierende Senator Thomas E. Watson. Gouverneur Thomas W. Hardwick, der für das Amt kandidierte, suchte nach einer Interimslösung. Er wollte jemanden ernennen, der in der Wahl keine Konkurrenz darstellen. Außerdem sollte die Besetzung ihm zusätzlich Stimmen aus der zum ersten Mal an den Wahlen beteiligten weiblichen Bevölkerung sichern. Bei dieser war er unbeliebt, weil er sich gegen den 19. Zusatzartikel aussprach. Dieser verbat den Ausschluss von Wahlen aufgrund des Geschlechts, Hardwicks Ablehnung bedeutete, dass Frauen in Georgia in Zukunft nicht an Wahlen beteiligt sein sollten. Als Konsequenz nominierte Hardwick daher Latimer Felton als Senatorin, die national für ihr Engagement für das Frauenwahlrecht bekannt war.

Hardwicks Plan ging nicht auf. Sein Konkurrent Walter F. George gewann überraschend die Wahl. Statt sofort seinen Sitz einzunehmen veranlasste er, dass Felton offiziell den Eid als US-Senatorin ablegen konnte. Mit 87 Jahren war sie damit die älteste Person, die als US-Senatorin bis heute vereidigt wurde.

Am 21. November wurde sie offiziell die erste weibliche US-Senatorin. Am 22. November gab sie ihr Amt an George ab. Damit hatte sie auch die kürzeste Amtszeit eines US-Senats-Mitglieds überhaupt.

Die Rassistin

Durch noch einen Aspekt fällt Latimer Feltons kurze Amtszeit auf. Sie war zugleich auch das letzte Senatsmitglied, das Sklaven besessen hatte.

Latimer Felton und ihr Mann besaßen vor und während des Amerikanischen Bürgerkriegs (1861-1865) eine Plantage, auf der mehrere Sklaven arbeiteten. Nach dem Bürgerkrieg war Sklavenhaltung verboten, weswegen ihr Mann zeitweilig aus der Politik zurückkehrte, bis sie genug Geld zur Eröffnung einer Schule gespart hatten.

Sicher gab es ehemalige Sklavenhalter*innen, die ihre Position im Laufe der Jahre veränderten. Die vielleicht sogar erkannten, dass Menschen unabhängig von ihrer Hautfarbe die gleichen Rechte haben sollten. Latimer Felton aber gehörte nicht zu ihnen. Sie glaubte an die Überlegenheit der weißen Rasse.

Für sie war beispielsweise alles Geld, das in die Bildung der schwarzen Bevölkerung gesteckt wurde, verschwendet. Wie einige ihrer Zeitgenoss*innen glaubte und propagierte sie, dass mehr Rechte für Schwarze zu mehr Kriminalität von ihnen führen würden.

Auch das Lynchen – jemanden ohne Gerichtsprozess verletzten oder töten – von schwarzen Männern befürwortete sie. Durch das Lynchen sollte ihrer Meinung nach die Vergewaltigung weißer Frauen verhindert werden:

When there is not enough religion in the pulpit to organize a crusade against sin; nor justice in the court house to promptly punish crime; nor manhood enough in the nation to put a sheltering arm about innocence and virtue – if it needs lynching to protect woman’s dearest possession from the ravening human beasts – then I say lynch, a thousand times a week if necessary.[24]


Aus einer Rede vom 11. August 1898 in Tybee, Georgia.

Rebecca Ann Latimer Felton: Eine Demokratin?

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Foto aufgenommen zwischen 1909 und 1930; Foto: United States Library of Congress’s Prints and Photographs division  digital ID cph.3c09794.

1930 starb Latimer Felton im Alter von 94 Jahren.

Einen Großteil ihres Leben setzte sie sich für mehr Rechte für Frauen und Gleichberechtigung der Geschlechter ein. Viele ihrer Forderungen könnten wir heute problemlos unterschreiben und weitertragen.

Aber ich – das ist meine subjektive Meinung – würde Latimer Felton dennoch nicht als Demokratin bezeichnen. Denn die Rechte, die sie für einen Teil der Bevölkerung einforderte, wollte sie einem anderen Teil nicht gewähren. Sie war aktiv daran beteiligt, dass Schwarze in den USA (insbesondere im Süden) weiter benachteiligt wurden. Ihre Reden und Zeitungsartikel zu weißer Überlegenheit stehen im unmittelbaren Zusammenhang mit Rassentrennung und weißen Ausschreitungen und Vandalismus.

Latimer Felton ist ein gutes Beispiel dafür, wie ambivalent Demokratiegeschichte sein kann. An ihrem Lebenslauf lassen sich Fragen nach Werten und Wertung diskutieren. Was denkt ihr: War sie eine Demokratin?

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Über uns 
Annalena B. arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. als Projektkoordinatorin im Bereich Demokratiegeschichte.

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