Demokratiegeschichten

„Fremd im eigenen Land“ – Rechtsextreme Anschläge in den 1990er Jahren II

Teil I dieses Beitrags ist hier zu finden.

Die rechtsextremen Anschläge riefen nicht nur bei den Betroffenen Reaktionen hervor. So kam es in der neuen Bundesrepublik erstmalig zu Massenmobilisierungen einer breiten solidarischen Zivilgesellschaft, oft in Form sogenannter „Lichterketten“ mit mehreren hunderttausend Demonstrierenden. Politische Reaktionen fielen weniger solidarisch aus. So rechtfertigte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl seine Abwesenheit in den Tagen nach den Brandanschlägen in Mölln damit, keinen „Beileidstourismus“ betreiben zu wollen.

Ein fataler Kompromiss

Wahlplakat der CDU zur Bürgerschaftswahl in Bremen 1991. Quelle: Konrad-Adenauer-Stiftung, CC BY-SA 3.0 DE DEED

Ende Dezember 1992 stimmte der Deutsche Bundestag mit einer Zweidrittelmehrheit aus CDU/CSU, SPD und FDP für eine weitreichende Änderung des Artikel 16 des Grundgesetztes, die eine erhebliche Beschneidung des Grundrechtes auf Asyl darstellte. Die Verfassungsänderung trat ab dem 28. Juni 1993 in Kraft und erschwerte nun die Möglichkeit, sich erfolgreich auf das Grundrecht auf Asyl zu berufen.

Nicht nur war der sogenannte „Asylkompromiss“ eine Reaktion auf gestiegene Asylbewerberzahlen zu Beginn der 90er Jahre. Er kann auch als eine Reaktion auf die rassistischen Gewalttaten gesehen werden. Auch dies ist also ein Umgang der demokratischen Gesellschaft mit extremistischen Taten und Positionen eines Teils seiner Bevölkerung. Aufseiten rechtsextremer Gewaltakteur*innen blieb so auch die Erkenntnis, dass „die massive rassistische Gewalt der frühen 1990er Jahre politische Entscheidungen beeinflussen konnte“.

„Der Zweite Anschlag“

Auch für die folgenden Jahrzehnte können rechtsextreme und rassistische Anschläge und Morde verzeichnet werden. Der sogenannte Nationalsozialistische Untergrund (NSU) konnte über einen Zeitraum von zehn Jahren eine Serie an Morden sowie Nagelbombenanschläge begehen, die erst 2011 endete. Lange wurden die Taten nicht als rechtsextrem erkannt, vielmehr wurden die Gründe für die Morde im Umfeld der Opfer gesucht.

Ebenfalls blieb lange eine bundesweite Mobilisierung der Zivilgesellschaft aus, da der Zusammenhang zwischen den Taten nicht erkannt wurde. Dieser Zusammenhang wurde vor allem von den Angehörigen der Opfer öffentlich thematisiert, die sich bereits im Mai 2006 zusammenschlossen und mit der Forderung „Kein 10. Opfer“ eine Demonstration organisierten.  Ein Grund, warum die Familien der Opfer bereits fünf Jahre vor der Selbstenttarnung des NSU 2011 auf Rassismus als Motiv und die Zusammengehörigkeit der Taten hinwiesen, bevor und „ohne dass dieses Wissen ermittlungstechnisch relevant geworden wäre“, waren auch die Ereignisse zu Beginn der 90er:

Das Wissen um Wiederholung und die endlose Geschichte rassistischer Gewalt ist Menschen mit Migrationsgeschichte stets präsent. Sich eingehend mit der Alltags- und Erfahrungsgeschichte des Rassismus zu beschäftigen, (…) generiert historisches Wissen. (…) Wer diese Perspektive konsequent aufnimmt, lernt nicht nur etwas über die Ursachen, sondern auch über die Auswirkungen auf Dauer gestellter Rassismuserfahrung.

Franka Maubauch: Mölln, Solingen und die lange Geschichte des Rassismus in der Bundesrepublik
Demonstration gegen Rechtsextremismus und zur Erinnerung an die Opfer des NSU im April 2013 in München. Quelle: Fraktion DIE LINKE. im Bundestag, CC BY 2.0 DEED

Migrantisches Wissen in der Geschichtsvermittlung

Ebenso lässt sich auch darüber etwas lernen wie sich Menschen demokratischer Mittel und Ausdrucksformen ermächtigten, um auf ihre Schicksale und auf die erfahrene Gewalt aufmerksam zu machen und sich Gehör zu verschaffen. Im Falle des NSU-Komplex beispielsweise waren dies Demonstrationen, Veranstaltungen und Gründungen von Initiativen wie Keupstraße ist überall, NSU-Komplex auflösen, das NSU-Tribunal und dem NSU-Watch. Hier kamen Betroffene unterschiedlicher Anschläge zusammen – auch Betroffene der Anschläge der 90er und 80er Jahre.

Migrantisches Wissen in der Geschichtsvermittlung trägt so nicht nur einer Migrationsgesellschaft, die längst Realität ist, Rechnung, sondern stärkt auch eine demokratische Bildung, in dem es Formen der Beteiligung, Selbstorganisationen, Vernetzung und des Engagements aufzeigt. Es ist wichtig, diesen Geschichten einen sichtbaren Platz in der Erinnerungskultur der jüngeren deutschen Vergangenheit und in der Auseinandersetzung mit Demokratiegeschichte zu geben.

NSU-Gedenkstätte in Zwickau. Zehn Bäume mit Gedenktafeln sollen an die zehn Ermordeten erinnern. Quelle: André Karwath, CC BY-SA 2.5 DEED

Say their names

Nach den Anschlägen vom 19. Februar 2020 in Hanau, bei dem neun junge Menschen erschossen wurden, vernetzten sich auch hier lokale und bundesweite Gruppen, betroffene wie solidarische Menschen. Es fanden über 100 Gedenkkundgebungen und Demonstrationen statt. So sieht die Politikwissenschaftlerin Katarina Stjepandić Hanau als Wendepunkt „sowohl auf der Ebene zivilgesellschaftlicher Mobilisierungen als auch im gesellschaftlichen und medialen Umgang mit rassistischen Mordanschlägen.“

Neu war auch, dass mit der Forderung Say their names die Namen und Gesichter der Opfer im Vordergrund standen und nicht der Täter. Dieser veränderte Umgang baut auch auf den migrantischen „Erinnerungskämpfen“, gesellschaftliche Debatten und Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte auf. In diesem Sinne können die vergangenen und anstehenden 30. Jahrestage der rechtsextremen Anschläge

einen Anlass bieten, diese Erfahrungs- und Handlungsräume genauer auszuleuchten und in das „Doing Memory“ an rassistische Gewalt zu integrieren. Lernen lässt sich auf diese Weise sowohl etwas über die historischen Ursachen und langen Kontinuitätslinien rassistischer Gewalt als auch darüber, wie weit die politischen und gesellschaftlichen Räume waren, in denen Rassismus sich ausbreiten konnte, und wie nötig alle Versuche waren und bleiben, sie zu verkleinern.

Franka Maubauch: Mölln, Solingen und die lange Geschichte des Rassismus in der Bundesrepublik
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