Demokratiegeschichten

Martins-Feier und Grenzöffnung am 12.11.1989

Was anderen Orten die Kirmes oder auch ein Heimatfest ist, ist vielen Nordhäusern die Feier anlässlich des Geburtstages von Martin Luther am 10. November – Martini. Am frühen Abend, traditionsgemäß um 17 Uhr, fanden sich damals wie heute viele Nordhäuser, alt und Jung, vor der evangelischen Kirche St. Blasii, im Zentrum der Stadt, ein, um an das Wirken Martin Luthers in Nordhausen zu erinnern, zu beten und zum Abschluss das Lied „Eine feste Burg ist unser Gott…“ gemeinsam zu singen. Nach dem Segen erleuchten die Lampions der Kinder, und es geht nach Hause oder in ein Gasthaus, um sich dem Festmahl zuzuwenden.

In der Mehrzahl verspeisten und verspeisen die Nordhäuser Gänsekeule, Klöße und Rotkohl, die dem Fisch zusprechenden Nordhäuser verzehrten und verzehren Karpfen, nach den individuellen Vorlieben angerichtet. Dazu trank man Bier aus einer der ansässigen Brauereien und Echten Nordhäuser Kornbranntwein oder Ähnliches aus dem reichhaltigen Angebot der vielen Brennereien der Stadt.

Martini 1989

Dieser Tradition folgend, trafen sich jährlich um den 10. November ehemalige Nordhäuser in Grenz- und Nordhausen-Nähe im Harz, um gemeinsam dieses Fest zu feiern, sich auszutauschen, Erinnerungen wach zu halten und Bekanntschaften und Freundschaften wiederzubeleben. So auch im Jahr 1989. Aber es war nicht wie sonst. Die Ereignisse des Herbstes 1989 in der DDR, verfolgt in Funk und Fernsehen, ließen keinen gleichgültig. Die Entwicklung war nicht abzusehen, aber keiner der Anwesenden ließ sich vom eigentlichen Zweck des Treffens abhalten.

Die Martinifeier fand am Sonnabend, dem 11. November, mit einem ausgezeichneten Gänsebraten und den bereits erwähnten Getränken in einem Hotel in Braunlage im Harz statt. Die Stimmung war gut und locker, zu vorgerückter Stunde sahen wir uns noch ein Video, nur einige Tage alt, über den gegenwärtigen Zustand Nordhausens an. Die sozialistische Art der Sanierung mittelalterlicher Häuser, die einfach dem Verfall preisgegeben worden waren, erschütterte alle Anwesenden.

Grenzöffnung

In Berlin hatten die Dinge unterdessen längst ihren Lauf genommen. DDR-Bürger fuhren in den Westen und umgekehrt, teilweise noch mit einem mulmigen Gefühl. Im Südharz blieb bis dato alles still. Am Sonntagmorgen wachten wir durch die Unruhe im Hotel schon sehr früh auf. Wir erfuhren, dass die Grenzanlagen zwischen Ellrich und Walkenried bzw. Zorge im Abbau begriffen waren. Ein kurzes Frühstück, hastiges Kofferpacken, und los ging die Fahr in Richtung Zorge und Walkenried.

An der Einmündung der Straße von Ellrich auf die Straße nach Walkenried bzw. Zorge, nahe der Eisengießerei Busse, fanden wir einen Platz, von dem aus wir das Geschehen genau beobachten konnten. Die Öffnung des Grenzzaunes am Tor 9 der DDR-Grenzanlagen soll sich gegen 7:30 Uhr ereignet haben. Wir trafen gegen 9:30 Uhr an der benannten Stelle ein. Dort sahen wir, wie einige wenige DDR-Bürger und Autos den Todesstreifen Richtung Westen passierten. Je später es wurde, desto mehr Menschen brachen in ihren Autos in Richtung Westen auf.

Dieser Text ist ein Auszug aus Joachim Heises Beitrag „Leben im Sperrgebiet – Fallbeispiel Nordhausen“. Er erschien in dem Buch „Die Grenzen des Sozialismus in Deutschland. Alltag im Niemandsland“, herausgegeben von Klaus Schroeder und Jochen Staadt.

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