Demokratiegeschichten

Ruhrpol:innen im Vereinswesen I

Die deutsche Meisterschaft in den Händen von Polen. Triumph der Spieler von Schalke 04, der Mannschaft unserer Landsleute.

Przegląd Sportowy, 30. Juni 1934, S. 1.
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Ernst Kuzorra während der Saisoneröffnung auf Schalke 1987; Foto: gemeinfrei.

So titelte am 30. Juni 1934 die Warschauer Sportzeitung Przegląd Sportowy (Sportrundschau). Sie nahm damit Bezug auf die Spieler Emil Czerwinski, Ernst Kalwitzki, Ernst Kuzorra, Hermann Mellage, Fritz Szepan, Otto Tibulski, Adolf Urban und Ferdinand Zajons: Diese seien Kinder von nach Westfalen ausgewanderten polnischen Bergleuten. Und trotz vorheriger Benachteiligungen aufgrund ihrer Nationalität hätten sie nun also die deutsche Meisterschaft gewonnen.

Eine Dementierung der Schalker Vereinsführung folgte prompt. Im „Kicker“ beeilte sie sich zu versichern, „dass die Eltern unserer Spieler sämtlich im heutigen oder früheren Deutschland geboren und keine polnischen Emigranten sind“. Demnach seien die Spieler im Ruhrgebiet geboren und ihre Eltern stammten aus Masuren, dem protestantischen Teil Ostpreußens, aus Oberschlesien, aus der Provinz Posen und aus Ostfriesland.

Auf der Suche nach Arbeit…

Doch was steht hinter dem Streit – wenn man es so nennen möchte – um die nationale Identität der Schalker Spieler? Wie kommt es, dass ein so großer Teil von ihnen Vorfahr:innen aus östlichen Gebieten hatte?

Die Ursache dafür lässt sich bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen. In dieser Zeit hatte sich die Versorgungslage in Ostpreußen, Posen und Schlesien stetig verschlechtert. Auf der einen Seite hatte die angehende Industrialisierung für ein anhaltendes Bevölkerungswachstum gesorgt. Auf der anderen Seite jedoch stagnierte die wirtschaftliche Entwicklung in einzelnen, vor allem ländlichen Gebieten. Die Folge davon waren Arbeitslosigkeit und Hunger.

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Barmen um 1870 vom Ehrenberg aus gesehen, Gemälde von August Wille.

In den 1870er Jahren ergab sich ein Ausweg, insbesondere für die arbeitslosen jungen Männer in den ostpreußischen Provinzen. Denn 1867 wurde die Freizügigkeit innerhalb Preußens beschlossen, was ihnen die Möglichkeit gab, ihren Arbeits- und Lebensort zu wechseln. Viele von ihnen zog es in eine Gegend, die eine Hochburg der Industrialisierung war und in der Arbeiter, insbesondere in den Zechen, dringend gesucht wurden: ins Ruhrgebiet.

…ins Ruhrgebiet

Nachdem die ersten von ihnen dort Arbeit gefunden hatten, schickten sie Nachricht an Familie und Freunde, dass vor Ort sicher Arbeitsplätze zu finden seien: „Lobeshymnen für dieses unbekannte Land schossen aus seinem Munde; jeder Pole in Posen oder Schlesien, der sich in beklagenswerter Lage befand, empfand beim Hören solcher Lobpreisungen große Freude und gleichfalls Verlangen nach diesem glücklichen Land.“  Der Zuzug aus dem Osten hielt mehrere Jahrzehnte an. Zwischen 1867 und Anfang der 1920er Jahre wanderten etwa 700.000 Menschen aus den Ostprovinzen Preußens in andere Teile des deutschen Reiches ein. Etwa 400.000 von ihnen ließen sich im Ruhrgebiet nieder und wurden unter dem Begriff „Ruhrpolen“ bekannt.  

Zwar war die Arbeitskraft der Migrant:innen stark nachgefragt, doch wurden sie von der Bevölkerung Westfalens und des Ruhrgebiets nicht mit offenen Armen aufgenommen. Polnische Dialekte und ihre meist katholische Religiosität sorgten dafür, dass die Neuankömmlinge nur schwer Anschluss fanden. Darauf gibt schon die Bezeichnung „Ruhrpolen“ selbst einen Hinweis: Hier wurden Gruppen verschiedener Herkunft in einen Topf geworfen, obwohl sie sich lokal in ihren Traditionen unterschieden und teilweise bewusst voneinander abgrenzten. Dabei hätten sich die aus Masuren stammenden Migrant:innen, die meist protestantisch und preußentreu waren, selbst niemals als Polen bezeichnet und grenzten sich von diesen ab. Da sie einen altpolnischen Dialekt sprachen, wurden sie dennoch zur Gruppe der „Polen“ gezählt.

Karikatur zur Situation poln. Gastarbeiter im Ruhrgebiet: ‚Mutter Bronislaw: Müssen zurückwandern nach unserer polnischen Heimat! Vater ist tot und Wohnung für neu angeworbene Landsleute nötig.‘ Farbdruck, nach Zeichnung von H.G.Jentzsch, aus: Der Wahre Jacob, Jg.1912/13 @ picture alliance / akg-images.

Fremdheitserfahrungen

Diese Fremdheitserfahrungen mögen ein Grund dafür gewesen sein, warum sich bald im Ruhrgebiet ein reges polnisches Vereinswesen bildete. Die Vereine dienten als Orientierungshilfe für Neuankömmlinge und wurden so zur ersten Anlaufstelle vieler Migrant:innen. Weitere Ziele bestanden beispielsweise in der Aufrechterhaltung und Pflege der jeweiligen mitgebrachten lokalen Bräuche, Kultur und Religion. Ausflüge mit anderen Vereinsmitgliedern und Zusammenkünfte förderten so den Integrationsprozess der Mitglieder, zumindest innerhalb ihrer jeweiligen ethnischen Minderheit. Bis zum Ersten Weltkrieg entstand so ein engmaschig organisiertes Netzwerk mit übergeordneten zentralen Einrichtungen, das nahezu alle Lebensbereiche der Zugewanderten umfasste.

Ausgenommen hiervon waren zunächst Vereine mit einer dezidiert politischen Ausrichtung. Diese hätten unter deutschem Recht kaum eine Chance auf Zulassung gehabt. Dennoch dominierten in den Vereinen um die Jahrhundertwende nationalistische Ansichten, was nicht zuletzt mit den repressiven Maßnahmen der preußischen Behörden zu tun hatte. Schon der sogenannte Kulturkampf gegen die katholische Kirche hatte die überwiegend katholischen polnischen Arbeiter:innen getroffen. Doch im Zeitalter des erstarkenden Nationalismus richtete sich die Politik des deutschen Reiches zunehmend auf eine Germanisierung der Pol:innen. Als Beispiel sei die 1909 in Bochum eingerichtete „Zentralstelle für Überwachung der Polenbewegung im Rheinisch-Westfälischen Industriegebiet“ genannt. Diese sammelte, übersetzte und auswertete
sämtliche Daten zum polnischen Vereinswesen.

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Über uns 
Annalena B. arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. als Projektkoordinatorin im Bereich Demokratiegeschichte.

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