Demokratiegeschichten

Ruhrpol:innen im Vereinswesen II

Teil I dieses Artikels findet ihr hier.

Stimmzettel zur Reichstagswahl 1924. Auf Platz 5 der Liste die „Polen-Partei“. Foto: Badischerschwabe/CC BY-SA 4.0 DEED.

Mit dieser und anderen diversen diskriminierenden Maßnahmen, die sich auch dezidiert gegen das polnische Vereinsweisen richteten, förderten die Behörden vielerorts das Nationalbewusstsein der Zugewanderten nur weiter.

Dies war allerdings nur eine Seite der Medaille: Längst nicht alle Ruhrpol:innen schlossen sich dem polnischen Vereinswesen an, wählten polnische Parteien oder interessierten sich für die polnische Nationalbewegung. Insbesondere Frauen, für die es zunächst keine polnischen Vereine gab, schlossen sich daher deutschen, überwiegend religiösen Vereinigungen an. Vor allem die Schützenvereine erfreuten sich bei den (jungen) Männern großer Beliebtheit, dies führte mitunter auch zu Spannungen innerhalb der Minderheit und zu Unverständnis bei national ausgerichteten Ruhrpol:innen:

Vor kurzem haben hier die Festlichkeiten des deutschen oder [sollte man besser sagen] des gemischten Schützenvereins stattgefunden, weil sich sehr viele Polen an diesen Festlichkeiten beteiligt haben. Ein Unbehagen befällt mich, wenn ich hier schreiben muss, daß an diesem Manöver sich auch die Söhne solcher Landsleute beteiligten, die hier als tüchtige Polen gelten wollen.

StA Hattingen, SHC01-398, Übersetzungen…, Nr. 25, Jg. 1913, 20. Juni 1913, Aus Hörde wird uns geschrieben, in: Wiarus Polski, Nr. 220, 21. September 1913.

Integration oder Assimiliation?

Die Bereitschaft zur Integration – oder Assimilation? – unter den Ruhrpol:innen wuchs, je länger sie in der „neuen Heimat“ lebten. Die Gründung des polnischen Nationalstaats nach Ende des Ersten Weltkriegs führte außerdem dazu, dass etwa ein Drittel der Ruhrpol:innen das Deutsche Reich in Richtung des neu gegründeten Staates verließen. Ein weiteres Drittel wanderte Anfang der 1920er Jahre Richtung Frankreich und Belgien aus, dort wurde aktiv um Arbeitskräfte in der Industrie geworden.

Das polnische Vereinsnetzwerk verlor in Folge an Bedeutung, die verbliebenen Ruhrpol:innen traten auch zahlenmäßig bedingt vermehrt „deutschen“ Vereinen bei. Damit fand auch eine zunehmende Entfremdung vom polnischen Kulturgut statt. Von den kulturellen Hinterlassenschaften der Ruhrpol:innen ist heute wenig geblieben, hauptsächlich ihre Namen erinnern noch an ihre Migrationsgeschichte.

Gesangsvereinigung in Bochum-Hamme, 1910-1939. Foto: © Copyright: Narodowe Archiwum Cyfrowe. Public domain.

Vereine als Orte der Partizipation

80 Jahre nach dem Sieg des Vereins Schalke 04 war es wieder ein Fußballspieler einer deutschen Mannschaft, diesmal der deutschen Nationalmannschaft, der von der polnischen Presse gelobt wurde. Miroslav Klose, polnisch Mirosław Józef Klose, wurde 1978 in Opolte, Polen geboren und 2014 zum Fußball-Weltmeister und Rekord-WM-Torschützen. Die nationalkonservative polnische Tageszeitung „Rzeczpospolita“ bezeichnete das „als eine zusätzliche Genugtuung für uns“ (mit uns war Polen gemeint).[

Nicht nur die zwei Fußball-Artikel weisen Parallelen zueinander auf, auch die Funktionsweisen von Vereinen für die vergangene und für die heutige Migrationsgesellschaft ähneln sich. Betrachten wir den Nutzen, den die Vereine für die Ruhrpol:innen hatten und übertragen wir diese auf unsere aktuelle Gesellschaft, dann ergeben sich folgende Aspekte:

  1. Innerhalb von Vereinen ist die Bewahrung und Förderung einer gemeinsamen kulturellen Identität, die nicht von der „Mehrheitsgesellschaft“ gelebt wird, möglich. Auch die Vernetzung mit Personen, die eine ähnliche Migrationsgeschichte haben, erfolgt hier.
  2. Die Gründung von und Aktivität in Vereinen ermöglicht eine Form von Selbstwirksamkeit, die mitunter im (politischen) System und der Mehrheitsgesellschaft nicht gegeben ist. Eine (politische) Teilhabe ist nicht allen in Deutschland lebenden Menschen möglich; in Vereinen erfahren sie Aufnahme, können sich engagieren und zu Interessengemeinschaften zusammenschließen.
  3. Vereine können damals wie heute zur Integration und zum Austausch beitragen. Egal ob im Jugend-, Sport-, Kultur oder einem anderen Bereich, durch gemeinsame Aktivitäten begegnen sich Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen. Die jeweilige Lebensgeschichte kann – aber muss nicht – in den Hintergrund treten.
Beispielbild für eine Vereinssitzung; Foto: Cade Martin, Dawn Arlotta, USCDCP

Engagement im Verein

Stand April 2022 waren 615.759 Vereine ins Vereinsregister eingetragenZwar nimmt die Zahl der Vereinsgründungen von Jahr zu Jahr ab, doch sind momentan etwa 20 bis 30 Millionen Menschen in Deutschland im Ehrenamt oder Vereinen aktiv. Ein Blick in die lokale Vereinslandschaft unter dem Aspekt der Migrationsgeschichte zu werfen, scheint durchaus lohnenswert zu sein. Bedenkt man, dass Vereine insbesondere in Westdeutschland seit über 100 Jahren fester Teil der Gesellschaft sind und am Beispiel der Ruhrpol:innen gezeigt wird, dass sie teilweise gezielt für die Interessenvertretung von Migrant:innen gegründet werden, ließe sich dies auch für andere Zuwanderungsbewegungen untersuchen.

Momentan gibt es noch wenig Studien zum Thema (bürgerschaftliches) Engagement von Menschen mit Migrationsgeschichte. Die bestehenden Studien weisen darauf hin, dass die Bereitschaft zum Engagement bei Menschen mit Migrationsgeschichte nicht geringer ist als das bei Menschen ohne Migrationsgeschichte. Dennoch sind sie in klassischen Vereinen und Verbänden – nicht in Migrant:innenselbstorganisationen – nach wie vor unterrepräsentiert. Das ist bedauerlich, bedenkt man, dass sie aus der Migrationsförderung mittlerweile nicht mehr wegzudenken sind: Sie ermöglichen gesellschaftliche und politische Partizipation und Zugänge von Personen, die in anderen Bereichen unterrepräsentiert sind.

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Über uns 
Annalena B. arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. als Projektkoordinatorin im Bereich Demokratiegeschichte.

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