Demokratiegeschichten

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Als Kind bin ich in den 1990er Jahren aufgewachsen. Feste, Einschulung, Großelternbesuche; Fotos im Familienalbum verschwimmen mit bunten Eindrücken aus dieser Zeit. Wirklich klare und eigene Erinnerungen beginnen bei mir erst nach 2000. Zwei haben mich besonders geprägt: Erstens die brennenden Türme am 11. September 2001. Was passierte und warum, habe ich damals nicht verstanden. Nur, dass irgendwas Schreckliches geschah. Circa 1 1/2 Jahre später, meine zweite Erinnerung: Hand in Hand stehe ich in einer Menschenkette, die um die nächste Kurve reicht.

Menschenkette für den Frieden

Münster, Osnabrück: Mit einer Menschenkette wollen „Das Osnabrücker Bündnis gegen den Irakkrieg“ und das“ Friedensforum Münster“ am kommenden Samstag von Friedenssaal zu Friedenssaal zwischen den beiden Städten für ein Ende des Krieges protestieren.

Wieso stand ich am 29. März 2003 in dieser Menschenkette? Jedenfalls war es nicht meine Idee, gegen den Irakkrieg zu protestieren. Denn als 11-Jährige war ich nicht politisch. Und Erfahrungen mit Demonstrationen hatte ich bis dahin auch nicht. Mitgenommen hat mich meine Mutter, die seit ihrem Studium in Bonn auf Friedensdemonstrationen ging. Begleitet wurden wir außerdem von meiner damals besten Freundin und einer großen Peace-Flagge.

Woran ich mich erinnere

Zuerst war da die Busfahrt, die schon spannend an sich war. Viele fremde Menschen, eine ausgelassene Stimmung. Bestimmt hatte meine Mutter Mühe, mich und meine Freundin einigermaßen ruhig zu halten. Und als wir endlich in einem Waldstück ausstiegen, waren da noch mehr Menschen. Irgendwelche Menschen hatten Instrumente dabei, auf jeden Fall gab es Musik. Außerdem erinnere ich mich an noch mehr herumlaufende Kinder, während Erwachsene allen Alters versuchten, uns in eine Reihe zu stellen. Irgendwann standen wir dann Hand in Hand und bildeten eine Menschenkette, deren Ende ich nicht sehen konnte. Dann fuhr ein Motorrad mit Kameramann vorbei, wir jubelten, und kurze Zeit später fuhren wir wieder zurück.

Um ehrlich zu sein bin ich nicht sicher, ob ich denn Sinn der Menschenkette wirklich verstand. Warum hat meine Mutter mich und meine Freundin trotzdem mitgenommen? Waren wir mit unserem begrenzten Verständnis der Situation nicht fehl am Platz?

Woran meine Mutter sich erinnert

15 Jahre später erklärt mir meine Mutter ihre damalige Entscheidung: Sie war sicher, dass die Aktion friedlich verlaufen würde. Gegenaktionen, z. B. von rechtsextremen Gruppen, wurden nicht befürchtet. Sonst hätte sie uns nicht mitgenommen. Außerdem war nicht klar, ob die Friedenskette Erfolg haben würde. Unter den Teilnehmenden herrschte bis zum Schluss große Anspannung. Für die 50 km von Münster nach Osnabrück wurden immerhin 30.000-40.000 Menschen benötigt. Es zählte tatsächlich die Anwesenheit jedes und jeder Einzelnen.

Was mir von damals bleibt

Und genau das wollte meine Mutter mir zeigen: Ich kann als Einzelne in der Masse wichtig sein. Dass es viele Formen gibt, um etwas zu bewegen. Und wenn eine Sache wirklich wichtig ist – und was ist wichtiger als Frieden? – stehen Menschen zusammen. An diesem Tag stand ich in einer Reihe mit Friedensaktivist*innen, Grünen, Linken, Kindern, Eltern, Senior*innen, …

Seit dieser Zeit habe ich die Gewissheit, dass es Werte und Ideale gibt, die völlig unterschiedliche Menschen zusammenbringen. Die Menschenkette von damals ist für mich ein Sinnbild der Demokratie geworden.

Eine Dokumentation der Friedenskette finden Sie hier, eine weitere Erinnerung an Demokratiegeschichte in diesem Beitrag.

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Über uns 
Annalena B. arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. als Projektkoordinatorin im Bereich Demokratiegeschichte.

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