Demokratiegeschichten

Zur Demut gehört Mut: Der Kniefall Willy Brandts in Warschau 1970.

Willy Brandt und der Kniefall

Eine der größten Gesten der Geschichte ist für mich der „Kniefall“: Heute vor 48 Jahren erwies Bundeskanzler Willy Brandt den Ermordeten und den Verfolgten des Warschauer Ghettos seine Referenz. Ein großer Staatsmann, der sich bei nasskaltem Wetter auf dem Boden klein macht, so dass auf eisige Zeiten Tauwetter folgen konnte mit den Ostverträgen. In dem Wort Demut steckt der Ausdruck Mut. Manch einer in der Opposition schäumte in West-Deutschland, in der damaligen Bundesrepublik neben der DDR. „Ausgerechnet im Ostblock tut er’s?!“ Ausgerechnet in Polen, und das bei allen unerledigten Grenzkonflikten und völlig offenen Vereinigungsfragen?

War es eine spontane oder geplante Geste?

Wieder und wieder wird spekuliert, wie spontan oder geplant es war von ihm, sich so zu verhalten. Und aus Sicht der damaligen Regierung der „Volksrepublik“ Polen war die Geste eigentlich weder opportun noch recht öffentlichkeitstauglich. Viele Menschen in der Metropole sahen das berühmte Bild erst später oder „heimlich“ in den Medien der freien Welt hinter dem Eisernen Vorhang. Zumindest die gelenkten Zeitungen in Mittel- und Osteuropa druckten zunächst andere Fotos vom Staatsbesuch. Manche wiederum meinen bis in die Gegenwart hinein, Bundeskanzler Brandt habe quasi am falschen Ort gekniet. Was meiner Meinung nach bis heute auf die Zerklüftungen zwischen Nichtjuden und Juden verweist, übrigens längst nicht nur in Polen.

„Mehr Demokratie wagen“

hat Willy Brandt gefordert: Politisch nämlich im Parlament in Bonn, doch bleiben wir gedanklich in Warschau beim Erinnern und Gedenken: Sich nicht unterkriegen zu lassen vom gefährlichen Gegner, in aussichtsloser Lage nicht die Hoffnung verlieren und im Kleinen helfen, das verdient höchste Anerkennung. Dafür bewundere ich Polen, denn Widerstand war in dem besetzten Lande während des Zweiten Weltkriegs kein Randereignis. Deshalb staune ich häufig neu angesichts der mutigen Leistungen des Untergrunds an der Weichsel. Sei es 1943 beim Ghetto-Aufstand und 1944 im Warschauer Aufstand, bei den voneinander sicher getrennt zu untersuchenden Ereignissen. Doch eines lehrt die Geschichte: Gemeinsam müssen wir Rückgrat zeigen, um Freiheit und Verantwortung vorzuleben und um Europa zu bauen. Oder auch bewusst auf den Knien für eine Sache einstehen, wo dieses erforderlich ist.

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Über uns 
Stefan Querl, Jahrgang 1974, besuchte kurz vor Ende des Kalten Kriegs während einer Auschwitz-Exkursion nach Oświęcim und Kraków erstmals Polen. Seither engagiert er sich im Maximilian Kolbe Werk. Die kirchliche Hilfsorganisation begleitet polnische Überlebende von Ghettos, Konzentrationslagern, Gestapo-Gefängnissen - das ganz unabhängig von ihrer Herkunft, politischen Haltung, Religionszugehörigkeit oder Weltanschauung. Der Mitarbeiter der Erinnerungsstätte Villa ten Hompel in Münster ist Mitglied von Gegen Vergessen Für Demokratie.

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