Demokratiegeschichten

Zwischen Kaiserreich und Ende der Weimarer Republik – Das politische Leben und Wirken von Nikolaus Osterroth

Das Leben von Nikolaus Osterroth begann am 16. Februar 1875 in Hettenleidelheim in der Rheinpfalz, er verstarb am 9. September 1933 in Werder an der Havel. Es war ein relativ kurzes Leben, aber ein langer und steiniger Weg vom streng katholisch erzogenen Jungen bis zum Bergarbeiterführer und sozialdemokratischen Politiker auf Kommunal- und Reichsebene. Denn die tradierten Lebensweisen des familiären und dörflichen Umfeldes und das Eingebundensein in kirchliche Organisationen erwiesen sich als schwer überwindbare Barriere.

Aufwachsen in der Pfalz

So wuchs Nikolaus Osterroth in einer verarmten Familie, stark geprägt durch Kirche, Schule und später durch den Militärdienst. Dieser Einfluss führte zum Wohlverhalten und zur Anpassung an den wilhelminischen Obrigkeitsstaat und vor allen Dingen zum Glauben an die Unfehlbarkeit seiner katholischen Kirche. Osterroth, der durch seine strenggläubige Stiefmutter erzogen wurde, schreibt dazu in seinem Buch „Vom Beter zum Kämpfer“:

„Mit wahrem Fanatismus arbeitete sie an der religiösen Vervollkommnung des Vaters, der nun ganz unvermittelt sonntags dreimal in die Kirche ging, dort am lautesten mitsang und betete … und fing auch an, bei mir die Grundlage zu einem christlichen Lebenswandel zu legen.“


Osterroth, Vom Beter zum Kämpfer, S. 6
antiquarisches Buch – Osterroth, Nikolaus – Vom Beter zum Kämpfer
Nikolaus Osterroth, Vom Beter zum Kämpfer, erste Auflage erschienen Berlin 1920.

Nikolaus Osterroth besuchte bis zum 13. Lebensjahr die Volksschule, um dann zunächst als Arbeiter in einer Tonziegelfabrik zu arbeiten. Später trug er als Bergmann im Tonbergbau seiner Heimat zum Lebensunterhalt seiner Familie bei. In seinem Buch „Vom Beter zum Kämpfer“, welches erstmals 1920 im Verlag der Buchhandlung Vorwärts in Berlin erschienen ist, hat Nikolaus Osterroth seine Erinnerungen an die frühe Kindheit bis zu den Anfängen der Arbeit in der Sozialdemokratischen Partei festgehalten.

Sein Weg bis dahin war gepflastert mit Anfeindungen aus der Familie und seiner Kirche sowie Freiheitsstrafen wegen sozialistischer Umtriebe, Beleidigung der Obrigkeit und anderer „Straftaten“ im Rahmen seiner politischen Tätigkeit. Osterroth teilte dieses Schicksal mit vielen anderen Arbeitern und Intellektuellen, die sich für Sozialismus, Freiheit, Demokratie und soziale Gerechtigkeit einsetzten.

Trost bei der Kirche

Aber wie kam es dazu, dass Nikolaus Osterroth zur Sozialdemokratie überlief, obwohl er sich aufgrund seiner festen Verwurzelung in der katholischen Kirche zunächst eher der Zentrumspartei zugehörig fühlte? Denn eine andere politische Sozialisation konnte er sich anfangs gar nicht vorstellen. Aber Osterroth verspürte sehr früh bei seiner Arbeit im Tonbergbau und in der Tonziegelfabrik, wie ausbeuterisch und sozial ungerecht das Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitern war. Er suchte Trost bei „seiner“ katholischen Kirche und wandte sich an den Kaplan, der ihn mit folgenden Worten tröstete:

„dass die Arbeit der Fluch der sündenbelasteten Menschen sei,“ und weiter: „man müsse das Joch, dass Gott einem auferlegte, mit christlicher Geduld tragen, dann werde der Fluch der Arbeit zum Segen.“


Osterroth, Vom Beter zum Kämpfer, S. 46

Aber diese geistliche Erbauung des Dreizehnjährigen war nicht dauerhaft von Erfolg gekrönt. Als er während seiner Militärzeit in Kontakt mit anderen politischen Ansichten kam, wurden seine Zweifel immer größer. Er begann, Zeitungen und Bücher zu lesen und wurde Sozialdemokrat und Gewerkschafter.

Die Klassengesellschaft des Kaiserreichs

Zunächst muss jedoch ein Blick auf die politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Bedingungen in der Klassengesellschaft des Kaiserreichs geworfen werden.

Zwar wurden die bürgerlichen Bestrebungen nach Freiheit und Partizipation von 1830, 1832 und in der Revolution von 1848 von den deutschen Herrscherhäusern noch erfolgreich abgewehrt. Aber die gewaltigen Umwälzungen im wirtschaftlichen Bereich durch die Industrialisierung und die dadurch bedingten Verwerfungen im sozialen und kulturellen Kontext führten dazu, dass sich verschiedene politische Grundüberzeugungen herausbildeten und Teile der Bevölkerung entsprechend ideologisierten. Aus diesen Strömungen heraus wurden sukzessive die politischen Parteien gegründet, die nach ihrer Zielsetzung und Bandbreite politischer Vorstellungen hätten gegensätzlicher nicht sein können. Der Sozialismus geriet allerdings wegen seiner radikalen Forderung nach Demokratie oder proletarischer Diktatur in die Außenseiterrolle. Er wurde nicht nur von der Obrigkeit und beiden Kirchen, sondern auch von der staatstragenden Bürgerschicht zum Staatsfeind erklärt.

File:Arbeiterbew.jpg

Die Anführer der frühen Arbeiterbewegung:
August Bebel, Wilhelm Liebknecht – Karl Marx – Carl Wilhelm Tölcke, Ferdinand Lassalle , Lizenz: gemeinfrei.

Untereinander gerieten auch die Sozialisten immer mehr in Flügelkämpfe und stritten darüber, in welche politische und gesellschaftliche Richtung man sich bewegen sollte. In Richtung parlamentarische Demokratie oder in Richtung Diktatur des Proletariats? Die staatliche Verfolgung der Sozialisten, Marxisten und anderer linker Gruppierungen ging währenddessen weiter. Es gab im Deutschen Reich in der wilhelminischen Zeit kaum einen Funktionär oder eine politische Agitatorin dieser Gruppierungen, die nicht nach damaliger Rechtsprechung zu Freiheitsstrafen verurteilt wurde oder sonstige Repressalien über sich ergehen lassen musste. Das war vor, während und auch nach Aufhebung des Sozialistengesetzes der Fall, bis in die Zeit des Ersten Weltkrieges.

Verhaftet wegen „demokratischer Umtriebe“

Auch Nikolaus Osterroth hat Verhaftungen und Verurteilungen wegen seiner „demokratischen Umtriebe“ erleiden müssen, obwohl er durchaus ein vaterlandsliebender Patriot und von dem Gedanken der Nationalen Einheit erfasst war: Verstöße gegen das Vereinigungs- und Versammlungsrecht wurden ihm genauso vorgeworfen und führten zu Haftstrafen wie „staatsgefährdende Aussagen“.  Die Zeit der Gefängnisaufenthalte nutzte Osterroth wie viele eingekerkerte Sozialdemokraten für intensive Studien in vielen Fachrichtungen. Trotzdem hinterließen die Gefangenschaften Spuren, zumal die Familien der Verurteilten mitleiden mussten, weil ihre Existenz bedroht war. Als er 1913 wieder einmal eine Haftstrafe absaß, an die sich dann am  Tag seiner eigentlich geplanten Entlassung eine erneute Untersuchungshaft anschloss, schrieb er seiner Frau und offenbarte ihr seinen Seelenzustand:

„Die Sehnsucht verzehrt mich bald und ich zähle die Minuten bis zur Entlassung. Ich habe sie so oft schon erlebt, die Freuden des Wiedersehens, aber wenn man in seinem Seelenleben so vereinsamt wird wie ich im letzten Jahr und wenn man so viele Enttäuschungen durchlebt hat mit Leuten, die einem als Kampfgefährten gegeben sind, dann wird man menschenscheu und das Bedürfnis nach Familienglück wächst.“


Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Nachlass Osterroth, unveröffentlichte Materialsammlung, S. 54

Unverdrossen ging er aber seiner politischen Tätigkeit als Mitglied der SPD seit 1900 nach, vorher war er bereits Mitglied des Bergarbeiterverbandes. Er erwarb sich immer mehr das Vertrauen der Parteimitglieder und des Bergarbeiterverbandes, so dass er nach einem Kriegseinsatz von 1915 bis 1916 von diesem Verband reklamiert wurde und wieder die Tätigkeit des Bezirksleiters in Hamm/Westfalen aufnahm, die er schon seit dem 8. Oktober 1913 innehatte.

Nach dem Ersten Weltkrieg

Nach dem Ersten Weltkrieg und der Errichtung der ersten Demokratie in Deutschland wurde Nikolaus Osterroth zunächst am 9. November 1918 Vorsitzender des Arbeiter- und Soldatenrates für den Kreis Hamm-Soest. Anschließend wurde er im Januar 1919 zum Abgeordneten der Nationalversammlung in Weimar gewählt und war gleichzeitig Stadtverordneter in Hamm/Westfalen. Sein Leben und Wirken lassen sich sehr gut nachvollziehen. Seine weiteren Stationen des politischen Lebens sind ausgenommen umfangreich und erstrecken sich über die Wahl in den preußischen Landtag, die Herausgeberschaft der Zeitung „Der Hammer“, seine Funktion als Sozialdirektor und Vorstandsmitglied der Preußag mit Sitz in Berlin und andere wichtige Ämter und Aufgaben.

In den politischen Wirren der Weimarer Zeit hat Nikolaus Osterroth leidenschaftlich für die Demokratie gekämpft. Zahlreiche Dokumente, Schriften und von ihm gesammelte Zeitungsberichte sind in seinem umfangreichen Nachlass im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz über ihn einzusehen. Der Sohn von Nikolaus Osterroth, Franz Osterroth, Journalist, Gewerkschaftler, im NS-Deutschland Sozialdemokrat und Widerstandskämpfer, hat das Leben seines Vaters in der ausführlich kommentierten Materialsammlung: „Das Leben eines Bergarbeiterführers“ festgehalten, offensichtlich die Grundlage für ein Buch, das Franz Osterroth jedoch nie veröffentlicht hat. Über seine Kindheit und Jugend hat Nikolaus Osterroth selbst geschrieben und seine Entwicklung in dem bereits erwähnten Buch „Vom Beter zum Kämpfer“ dargestellt.

Frühes Lebensende

Das Leben von Nikolaus Osterroth endete am 19. September 1933, als er an einer schweren chronischen Erkrankung im Kreis seiner Familie im Alter von nur 58 Jahren starb. Die Trauerredner an seinem Sarg waren die in der Weimarer Zeit hoch angesehenen Sozialdemokraten Fritz Husemann sowie Dr. Theodor Haubach, der später in der NS-Zeit im KZ ermordet wurde. Dieses Schicksal musste Nikolaus Osterroth nicht erleiden. Sein Leben war für ihn ohnehin schon durch seinen leidenschaftlichen und unermüdlichen Einsatz für soziale Gerechtigkeit und Demokratie belastend genug gewesen. Osterroth schonte sich nicht, seine Frau und die Familie haben deshalb einige Opfer bringen müssen.

Wir, die in sicheren demokratischen und wirtschaftlichen Verhältnissen leben, für die Osterroth zeitlebens kämpfte, müssen uns immer wieder daran erinnern, wie fragil Freiheit und Demokratie sind, dass sie nicht selbstverständlich sind und ohne persönliches Engagement nicht dauerhaft Bestand haben werden.

Peter Schäfer ist nach unternehmerischer Tätigkeit und nach langjähriger Zeit als Kommunalpolitiker seit dem Wintersemester 2009/10 im Studium des Alters an der WWW-Münster. Schwerpunkte seines Studium sind Geschichte, Politik und Sozialwissenschaften. Im Rahmen des Forschenden Lernens “ Helden und Außenseiter“ ist von Peter Schäfer das Buch “ Walter Poller-lebenslanges Eintreten für Demokratie und Gerechtigkeit“ erschienen. 
Der Beitrag oben ist die Zusammenfassung eines Aufsatzes, der komplett  hier gelesen werden kann.

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