Demokratiegeschichten

Deutsche Gewerkschaften im 19. Jahrhundert

„Eine Demokratie braucht die Gewerkschaften“, meinte der britische Soziologe Colin Crouch 2013 in einem Interview mit der Hans-Böckler-Stiftung. Denn in ihnen würden Beschäftigte lernen, ihre eigenen Interessen zu vertreten. Und Reiner Hoffmann, der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), erklärte in der Talkshowrunde „Forum Demokratie“ 2020: Wo Tarifverträge, Betriebsräte und Gewerkschaften Sicherheit schaffen, erhalten rechtspopulistische Parolen oft weniger Zustimmung.

Wie eng Gewerkschaften und Demokratie tatsächlich miteinander verbunden sind, zeigt ein Blick in ihre Geschichte.

Die Arbeiter:innenbewegung als Reaktion auf soziale Not

Als eine Folge der Industrialisierung lebten viele Arbeiter:innen im 19. Jahrhundert in schwierigen Lebensverhältnissen. Gegen die oftmals über 12 Stunden Arbeit am Tag und die unsicheren, niedrigen Löhne waren sie in der Regel machtlos.

Aus ihrer sozialen Notlage heraus begannen daraufhin Arbeiter:innen für ihre Rechte zu kämpfen. Infolgedessen entstanden aus dieser Arbeiter:innenbewegung heraus im Laufe der 1830er Jahre einige Gesellen-Vereine. Sie setzten sich für eine Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen ein. Um auf die Arbeitgeber Druck auszuüben, organisierten sie beispielsweise große Streiks.

Als die Industrie weiter wuchs, breitete sich die Idee einer selbstorganisierten Interessenvertretung schnell auch in anderen Berufszweigen aus. Die ersten Gewerkschaften entstanden.

Mit der Revolution 1848 gelang ihnen schließlich der Durchbruch: In der Paulskirchenverfassung von 1849 wurde erstmals die Presse- und Versammlungsfreiheit gesetzlich garantiert. Damit konnten immer mehr Vereine gegründet werden.

Demokratische Verbände in undemokratischen Zeiten

Obwohl die Revolution bereits kurze Zeit später scheiterte, setzten die Arbeiter:innen ihre Streiks fort. Nach den ersten Erfolgen nahm die Gewerkschaftsbewegung weiter Fahrt auf. So bildeten sich auch Verbände mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Strategien. Einige Gemeinsamkeiten blieben:

Alle gewerkschaftlichen Vereine waren und sind bis heute demokratisch aufgebaut. Gewerkschaftsführer:innen und -funktionäre wurden schon im 19. Jahrhundert von den Mitgliedern gewählt. Trotzdem forderten längst nicht alle Gewerkschaften auch einen demokratischen Staat.

Die sozialistischen Freien Gewerkschaften

Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts spaltete sich die Gewerkschaftsbewegung zunächst in zwei große Richtungen mit unterschiedlichen politischen Ausrichtungen.

Die Anführer der frühen Arbeiter:innenbewegung: darunter August Bebel (links, oben) und Ferdinand Lassalle (rechts, unten), Lizenz: gemeinfrei.

Der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV) unter Ferdinand Lassalle, ebenso wie die sogenannten Eisenacher Gewerkschaften um August Bebel, setzten sich für ein größeres Mitbestimmungsrecht der Arbeiter:innen in der Gesellschaft ein. Ihr Ziel waren demokratische Reformen im ganzen Reich.

Dabei wiesen sie den Gewerkschaften nur eine untergeordnete Rolle gegenüber den demokratischen Parteien zu. Ihre wichtigste Aufgabe bestand darin, die Arbeiter:innen auf eine Mitgliedschaft in der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP) vorzubereiten. In Abgrenzung zu anderen Gewerkschaften wurden die sozialistischen Vereine auch Freie Gewerkschaften genannt.

Eine liberale Alternative: Die Hirsch-Dunckerschen Vereine

Neben den Freien Gewerkschaften gab es außerdem den liberalen und unparteiischen „Verband der deutschen Gewerkschaftsvereine“. Die darunter gefassten Gewerkschaften wurden nach ihren Begründern auch Hirsch-Dunckersche Vereine genannt. Sie plädierten für eine Trennung von Politik und gewerkschaftlichem Engagement. Ihre Neutralität schützte die Hirsch-Dunckerschen Vereine schließlich sogar vor der politischen Verfolgung gegen Ende des Jahrhunderts.

Das Sozialistengesetz und soziale Reformen

Um den wachsenden Einfluss der Sozialdemokrat:innen zu stoppen wurde 1878 das Sozialistengesetz verabschiedet. Bis 1890 verbot es jegliche sozialistischen Vereine und Schriften. Heimliche Neugründungen und weitere Streiks konnte der Staat jedoch nicht verhindern.

Parallel zu dem einschränkenden Sozialistengesetz führte die politische Führung eigene Sozialreformen ein. Die Absicht dahinter war, den sozialdemokratischen Organisationen zuvorzukommen und auf diese Weise ihren Einfluss zu schmälern. Mit den neuen Sozialreformen bestätigte sich aber vor allem die Wirksamkeit der Arbeiter:innenbewegung. Denn ohne den Druck der Gewerkschaften und der sozialdemokratischen Partei wäre die erste Kranken- und Rentenversicherung womöglich gar nicht entstanden.

Trotz Sozialreformen und Sozialistengesetz vergrößerte sich die sozialdemokratische Arbeiter:innenbewegung weiter. 1890 wurde das Sozialistengesetz vom Reichstag aufgehoben. Dennoch dauerte es einige Jahre bis sich die Freien Gewerkschaften von den Folgen der Unterdrückung erholten. Durch die Auflösung einzelner Vereine und ihr zurückhaltendes Vorgehen Anfang der 1890er hatten sie viele Mitglieder:innen verloren.

Der Halberstädter Kongress 1892

Zur Behebung dieser und anderer Schwächen der Freien Gewerkschaften fand 1892 der Halberstädter Kongress statt. Dort wurde unter dem Vorsitz des Sozialdemokraten Carl Legien eine Dachorganisation gegründet, der sich die lokalen Einzelgewerkschaften unterordneten. Durch diesen Zusammenschluss sollte die Durchsetzungskraft der Arbeiter:innen gegenüber den Arbeitgebern vergrößert werden.

Doch nicht alle Freien Gewerkschaften waren damit einverstanden, dass die lokale Selbstorganisation ersetzt werden sollte. Anhänger:innen des dezentralen Modells, die sogenannten „Lokalisten“, spalteten sich in Folge von der Masse der sozialistischen Gewerkschaften ab.

Frauen in Gewerkschaften

Ein weiterer Aspekt, der auf dem Halberstädter Kongress diskutiert wurde, war die stärkere Anwerbung von Arbeiterinnen. Dabei rührte der bisherige Mangel an Frauen in den Gewerkschaften nicht zuletzt von deren rechtlich beschränkter Stellung innerhalb der Gesamtgesellschaft her. So bemühten sich die Gewerkschaften um politische Mitbestimmungsrechte von Frauen im Deutschen Reich. Darüber hinaus forderten sie ausgeglichenere Löhne zwischen Männern und Frauen, sowie umfangreiche Regelungen zum Mutterschutz.

Emma Ihrer um 1900, Aufnahme aus dem Archiv der Sozialen Demokratie/Friedrich-Ebert-Stiftung, Lizenz: gemeinfrei.

Obwohl sich die Gewerkschaften damit für die Gleichberechtigung von Männer und Frauen stark machten, blieben die Geschlechterverhältnisse innerhalb der Vereine zunächst unausgeglichen. Bis in das 20. Jahrhundert hinein traten ihnen nur wenige Frauen bei. Auch Führungsrollen konnten Frauen in der Gewerkschaft nur selten einnehmen. Ausnahmen stellten Emma Ihrer, erstes weibliches Mitglied der gewerkschaftlichen Generalkommission 1890, sowie 1892 Wilhelmine Kähler dar.

Entstehen der christlichen Gewerkschaften

Während die Freien Gewerkschaften Ende des 19. Jahrhunderts zu einer Massenorganisation heran wuchsen, sanken die Mitgliederzahlen der liberalen Hirsch-Dunckerschen Vereine stetig. In Abgrenzung zu der kirchenkritischen, sozialdemokratischen Arbeiterschaft entstanden Mitte der 1890er Jahre außerdem erste christliche Gewerkschaften. Wie die liberalen Vereine strebten sie keine umfassende politische Beteiligung der Gewerkschaften oder gar eine Demokratie an. Streiks sollten aus ihrer Sicht lediglich als letztes Druckmittel eingesetzt werden.

Ab Beginn des 20. Jahrhunderts überwog eine nationalistische und antisemitische Haltung innerhalb der christlichen Gewerkschaften. Auch die neu entstehenden Vereine der Angestellten hatten nationalistische und antisemitische Züge.

Gesellschaftliches Engagement als Grundpfeiler der Demokratie

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts bestand die deutsche Gewerkschaftsbewegung aus mehreren parallelen Strömungen. Im Rückblick blieben Größe und Erfolge der Gewerkschaften in diesem Jahrhundert begrenzt. Nichtsdestotrotz ebneten sie bereits im Deutschen Kaiserreich den Weg für spätere, demokratische Bewegungen.

Nicht zuletzt prägen Gewerkschaften das kulturelle Umfeld ihrer Mitglieder:innen bis heute. Der Zusammenschluss mit Gleichgesinnten förderte des Selbstbewusstsein der Arbeiter:innen. Erste Erfolge zeigten, dass sich individuelles Engagement und gemeinsame Aktionen ‚von unten‘ lohnen können. Aristokrat:innen und Großunternehmer hatten an Einfluss verloren. Mit dieser Erfahrung im Gepäck und durch ihren eigenen, demokratischen Aufbau stellten die frühen Gewerkschaften ein Vorbild für zahlreiche demokratischen Organisationen des folgenden Jahrhunderts dar.

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Über uns 
Ines studiert Public History an der Freien Universität Berlin und arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V.

1 Kommentar

  1. Philipp von Vangerow

    7. April 2024 - 22:11
    Antworten

    Danke für diese Informationen 🙂

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