Demokratiegeschichten

1953. Parolen. Damals und Heute

Elena Demke arbeitet als Referentin für historisch-politische Bildung beim Berliner Beauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Danke für diesen Gastbeitrag!


Einerseits scheint es klar zu sein, wofür der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 steht, wenn wir in diesem Jahr seinen 70. Jahrestag begehen, wenn der Opfer gedacht und die Ereignisse ins Gedächtnis gerufen werden: Für den Freiheitswillen einer Million Unerschrockener gegen die Diktatur, für das Aufbegehren gegen die Arroganz der selbsternannten Führung der Arbeiterklasse, die über die Köpfe der Betroffenen hinweg eine Normerhöhung (sprich Lohnkürzung) dekretierte, für den Wunsch nach Demokratie und das Ende der deutschen Teilung.

Andererseits täuschen vermeintliche Klarheiten über das Widersprüchliche, Sperrige und Unbequeme hinweg, das Geschichte relevant und interessant macht. Denn erst, wenn wir anerkennen, wo sie uns fremd ist, erfahren wir durch die Vergangenheit auch etwas über unsere Gegenwart.

Nehmen wir zum Beispiel die Forderung der Aufständischen nach der deutschen Einheit. Denjenigen, die die Spätphase der SED-Diktatur erinnern, die deren Skurrilitäten kennen wie die einer Nationalhymne ohne gesungenen Text, weil „einig Deutschland“ nicht ausgesprochen werden durfte, muss es prompt sehr provokativ erscheinen, dass die Aufständischen von 1953 die deutsche Einheit forderten. Allerdings war damals die deutsche Einheit auch in der SED-Propaganda noch erklärtes Ziel. Und in den zensierten Medien war ein auf ganz Deutschland bezogener Patriotismus Selbstverständlichkeit. Insofern machte vor allem die Kombination der Forderungen wie die nach freien Wahlen in ganz Deutschland die kritische Kampfansage an die SED-Führung deutlich. Aber auch damit ist keine Eindeutigkeit in der Weise gegeben, dass die Herstellung der Einheit Deutschlands 1990 in direkter Weise das Vermächtnis der Aufständischen erfüllte.

Die Frage danach, in welchen Grenzen sich die Demonstrierenden von 1953 ein vereinigtes Deutschland vorstellten, ist nicht leicht zu beantworten. Unwahrscheinlich ist aber, dass man durchweg und selbstverständlich die Grenzen des heutigen vereinigten Deutschlands voraussetzte.

„Urmoment echten solidarischen Handelns“ (Jens Gieseke): Hennisdorfer Arbeiter:innen mar-schieren gemeinschaftlich nach Berlin-Mitte. AdsD 6/FOTB002932

1953. Parolen. Damals und Heute

Den aufschlussreichen Spannungen, die in dem Gegenwartsbezug zentraler Forderungen des Volksaufstands deutlich werden, geht die Veranstaltungsreihe „1953. Parolen. Damals und Heute“ des Berliner Aufarbeitungsbeauftragten nach. Geschichte ist nicht automatisch verstaubt, wenn sie lange zurückliegt. Sich zu vergegenwärtigen, dass der zweite Weltkrieg erst 8 Jahre zurücklag, als eine Million Menschen in der DDR auf die Straßen gingen, dass ein Großteil von ihnen Demokratie nie bewusst erlebt hatte, dass sie durch Städte zogen, deren Bild von Trümmern geprägt war – macht es das nicht erst spannend: die Ferne des Kontexts einerseits, und die scheinbare Nähe vertraut klingender Forderungen andererseits?

Gemeinsamkeit der DDR 1953 zu Polen 1980: Streikende aus unterschiedlichen Städten solidarisieren sich. AdsD FB027198

Die Reihe greift in vier Veranstaltungen Slogans der Demonstrierenden von 1953 auf; es geht um die Orientierung auf freie Wahlen, Solidarität, Gerechtigkeit und ein geeintes demokratisches Deutschland. In Debatten von Historiker:innen mit Politolog:innen, Journalist:innen und Aktivist:innen wird das Historische vertieft. Und dadurch werden auch seine Widersprüchlichkeiten kenntlich gemacht. Daran andockend wird jeweils die Bedeutung dieser Orientierungen für die Gegenwart diskutiert.

Im April stand der Slogan „Wir sind am Ende unserer Qual, wir fordern freie Wahl“ im Zentrum; die Veranstaltungen im Herbst zitieren mit „Die Preise des HO sind unser Ruin!“ und „ … ganz Deutschland!“ weitere zentrale Forderungen der Aufständischen. Dazwischen lag die zweite Veranstaltung der Reihe, die am 8. Juni 2023, also im unmittelbaren Vorfeld des Jahrestags, im Berliner Abgeordnetenhaus stattfand.

Die Veranstaltung

An diesem Abend ging es um die Forderung nach Solidarität. 1953 mit dem Ruf nach Mit-Tun vorgebracht: „Heraus zur Demonstration, übt Solidarität!“. Der Historiker Jens Gieseke vom Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam, der Philosoph Dr. Jacek Kołtan vom Europäischen Solidarność-Zentrum in Gdańsk und die Politologin und Twitter-Aktivistin Natascha Strobl aus Wien diskutierten, welche übergreifenden Merkmale Solidarität besitzt, was sie im Widerstand gegen die kommunistischen Diktaturen 1953 in der DDR und in den 1980er Jahren in Polen ausmachte, und warum es heute auf Solidarität ankommt.

Die Veranstaltung ist online abrufbar, an dieser Stelle sollen nur drei Aspekte, die thematisiert wurden, herausgegriffen werden:

Das gemeinsame Handeln von Schwachen

Der Begriff Solidarität hat Geschichte. Entsprechend vielfältig ist sein Gebrauch – bis hin zur ‚Schwammigkeit‘ oder Beliebigkeit, wenn man ihn synonym etwa zu Altruismus oder Wohltätigkeit nutzt. Jens Gieseke verdeutlichte, wie eine Begriffsdefinition auch das Hinschauen schärft. Er schlug vor, unter Solidarität das „gemeinschaftliche Handeln von Schwachen (und sich gemeinsam als schwach Wahrnehmenden) im Konflikt mit an sich stärkeren Mächten zur Kompensation individueller Schwäche“ zu verstehen. Damit kann man dann zum einen beispielsweise der wesentliche Unterschied zu Unterstützer:innen aus West-Berlin verdeutlichen. Diese gehen nicht in der Gemeinsamkeit (der individuellen Schwäche gegenüber dem Gegner SED) der Ost-Berliner Arbeiter:innen auf, aber üben „mittelbare Solidarität“. Zum anderen lenkt die Betonung des Wahrnehmungs-Moments die Aufmerksamkeit auf die Frage, woher 1953 das Bewusstsein für die gemeinschaftliche Kraft kam. Und dass in dieser Hinsicht ehemalige Gewerkschafter bei dem Aufstand eine wichtige Rolle spielten.

„beide können unsicher sein, aber sie haben sich gegenseitig …“ (Natascha Strobl): Das Detail von zwei Frauen, die in verschiedene Richtungen blicken, und sich an der Hand halten, erzählt uns Grundsätzliches über Solidarität. AdsD 6/FOTB002932
Die „Macht der Ohnmächtigen“

Zur Geschichte des Begriffs der Solidarität gehört auch die Beobachtung Jacek Kołtans, dass dieser in den 1950er und 1960er Jahren in den intellektuellen Debatten Europas verschwunden schien. Seine Wiederkehr folgte verschiedenen Entwicklungssträngen, die in den kommunistischen Diktaturen eine besondere Wendung mit der Denkfigur der „Macht der Ohnmächtigen“ nahmen. Diese entwickelte Václav Havel 1976 in einem berühmten Essay, Gedanken des verfolgten Philosophen Jan Patočka aufgreifend. Hier fängt die Macht der Schwachen noch vor der Wahrnehmung als handlungsfähige Gemeinschaft Betroffener an. Nämlich beim individuellen Entschluss zum „Leben in Wahrheit“ (so auch der deutsche Titel des genannten Essays). Solidarność erhielt wenige Jahre später seinen Namen äußerlich zufällig und in der Sache doch gar nicht zufällig: ein von den streikenden polnischen Arbeiter:innen beauftragter Grafiker gestaltete das berühmte Logo der folgenreichen Protestbewegung mit den Buchstaben von „Solidarität“, weil das Wort in aller Munde schien.

Handeln auf Augenhöhe

Solidarität führt schließlich dazu, dass kollektiv Handelnde sich auf Augenhöhe verbünden, Hierarchien in den Hintergrund und gegenseitige Rückversicherung in den Vordergrund treten. Natascha Strobl verwies in diesem Zusammenhang auch auf historische Wurzeln institutionalisierter Solidarität in der wechselseitigen finanziellen Absicherung, die unter Tage arbeitende Bergarbeiter einander gewährten angesichts der Ungewissheit ihrer unversehrten Rückkehr. Risiken und Ungewissheit angesichts aktueller Herausforderungen als geteilte wahrzunehmen und sich in diesem Sinne wechselseitig abzusichern, um das Überleben von 8 Milliarden Menschen zu ermöglichen, macht Solidarität heute so dringlich – so Natascha Strobl, deren jüngst erschienenes Buch den Begriff als Titel trägt, das der polnischen Protestbewegung ihren Namen gab, und das die Aufständischen vom 17. Juni den Unentschlossenen zuriefen.

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