Demokratiegeschichten

17.11.1989: Beginn der Samtenen Revolution

Im Herbst 1989 schlug eine Welle der Veränderung über den osteuropäischen Ländern zusammen. Ein Land nach dem anderen wurde vom politischen Umbruchs mitgerissen. So auch Tschechien (damals noch Tschechoslowakei): Mit der Samtenen Revolution begann dort eine Woche nach dem Mauerfall in der DDR ebenfalls ein weitgehend gewaltfreier politischer Wechsel.

An Stärke gewann die Bewegung zunächst jedoch durch einen Todesfall. Angeblich war ein Student auf einer Demonstration in Prag von der Polizei zu Tode geprügelt worden.

Vorgeschichte

Die Tschechoslowakei war für den Verlauf der Friedlichen Revolution in der DDR nicht ohne Bedeutung. Viele DDR-Bürger*innen versuchten, über die Botschaften im Nachbarland zu fliehen. Allein in Prag waren es circa 4.000 Menschen, die sich im Herbst 1989 auf das Botschaftsgelände der BRD geflüchtet hatten. Ende September genehmigte die DDR-Regierung ihre Ausreise, aus Prag fuhren mehrere Sonderzüge Richtung Westen.

Die Tschechoslowakischen Bürger*innen verfolgten die Geschehnisse im sozialistischen Bruderland mit Interesse. Auch in den anderen Staaten rumorte es. In Polen war mit Tadeusz Mazowiecki im Sommer 1989 in halbwegs freien Wahlen zum ersten Mal seit dem zweiten Weltkrieg ein Nicht-Kommunist zum Staatsoberhaupt gewählt worden. Ungarn baute seit Ende Juni seine Grenzzäune zu Österreich ab. Dann fiel am 9. November die Berliner Mauer. Nur drei Tage später stürzten Proteste in Bulgarien den amtierenden KP-Chef Todor Schiwkow.

Als im November die Proteste in der Tschechoslowakei begannen, kamen diese nicht aus dem Nichts. Bereits 1988 fanden in Bratislava antikommunistische Kerzendemonstrationen statt, Anfang Januar Demonstrationen zum 20. Todestag von Jan Palach. Die Polizei ging brutal gegen die Demonstrierenden vor, von denen sie 1.4000 verhaftete.

Demonstrationen und Todesmeldung

Die erste größere Demonstration im Herbst 1989 führten Studierende in Bratislava am 16. November an. Hier zogen sie von der Polizei ungehindert durch die Straßen. Einen Tag später fand in Prag anlässlich des 50. Jahrestags der Schließung technischer Hochschulen 1939 eine genehmigte Studierendendemonstration statt. Ungefähr 15.000 Menschen nahmen an dieser teil.

Doch im Gegensatz zu der Demonstration in Bratislava ging die Polizei in Prag mit Gewalt gegen die Protestierenden vor. Bei der Zerschlagung der Kundgebungen verletzte sie etwa 600 Menschen. Daraufhin riefen die Prager Studierenden zu einem unbegrenzten Studierendenstreik auf. Diesem schlossen sich bald die Prager Bühnen an, der Streik gilt als Beginn der Samtenen Revolution.

Unterstützung bei weiten Teilen der Bevölkerung erhielten die Streikenden jedoch, als sich einen Tag später die Nachrichten vom brutalen Vorgehen der Polizei verbreiteten. Denn nicht mehr nur von Verletzten, auch von einem Todesfall war die Rede: Martin Šmíd, Student der Mathematik, sei seinen Verletzungen erlegen. Die Meldung verbreitete sich wie ein Lauffeuer und brachte immer mehr Menschen auf die Straßen.

Martin Šmíd erinnert sich

14 Jahre nach den Geschehnissen führte Radio Prague International ein Interview mit dem angeblich im November 1989 Verstorbenen. Der zu diesem Zeitpunkt 33-Jährige erinnerte sich:

Ich selbst bin an diesem Tag ins Theater gegangen. Dort wurde aber nicht mehr gespielt, sondern es wurde gestreikt. Und dort habe auch ich zum ersten Mal gehört, dass es angeblich einen Toten gibt. Na, und als ich dann vom Theater nach Hause gekommen bin, da hat mein Vater dort schon ganz aufgeregt auf mich gewartet und gesagt, dass die Polizei hier war und nach mir gefragt hat. Als er wissen wollte, was passiert ist, haben die Polizisten zu ihm gesagt: Schalten Sie Radio Freies Europa ein. Also hat er Radio Freies Europa eingeschaltet. Und da wurde gemeldet: Ein Student der mathematisch-physikalischen Fakultät namens Martin Smid wurde bei der Demonstration getötet.

Kurz darauf dementierte Martin Šmíd seinen Tod im Radio und Fernsehen. Allerdings führten verschiedene Faktoren dazu, dass sein Dementi nur noch mehr neue Fragen aufwarf:

Das Gespräch wurde in der Eingangshalle des Studentenheims der Fakultät gedreht. Es war zu sehen, dass es sich um irgendeine Rezeption handelt. Und da haben die Leute begonnen zu denken, dass ich im Krankenhaus bin, zusammengeschlagen wurde oder unter irgendwelchen Drogen stehe. Warum ist das schwarz-weiß? Warum ist das so seltsam geschnitten? Es entstanden immer neue Fragen. Also musste ich am nächsten Tag wieder zum Fernsehen gehen, und sozusagen das Dementi dementieren. Also die Spekulationen, die dabei entstanden waren, widerlegen.

Doch auch die neuen Erklärungen halfen nicht. Zwar erkannten die Menschen in der Tschechoslowakei bald, dass Šmíd lebte. Doch an der Dynamik der Samtenen Revolution änderte dies nichts. Mit jedem Tag wuchs die Menge an Protestierenden auf den Straßen an.

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Über uns 
Annalena B. arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. als Projektkoordinatorin im Bereich Demokratiegeschichte.

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