Beunruhigt durch das Ergebnis der Reichstagswahlen im September 1930, bei der die NSDAP zur zweitstärksten Kraft gewählt wurde, warnte Thomas Mann am 17. Oktober vor 95 Jahren im Beethoven-Saal in der Alten Philharmonie Berlin in seiner Rede Deutsche Ansprache. Appell an die Vernunft vor den Nationalsozialisten. Die Rede gilt als eine der wichtigsten politischen Äußerungen des bekannten Schriftstellers.
Deutsche Ansprache. Ein Appell an die Vernunft
Mit Deutsche Ansprache. Ein Appell an die Vernunft knüpfte Thomas Mann an das Thema seiner vorausgegangener Rede Von deutscher Republik (1922) an. In dieser hatte er bereits zuvor auf die Bedeutsamkeit der Demokratie für Deutschland hingewiesen.
Mann analysierte in der Rede vom 17. Oktober 1930 den Wahlausgang der Reichstagswahl im September des selben Jahres. Dabei betonte er von den zahlreichen Ursachen für den starken Zugewinn der NSDAP vor allem die Wirtschaftskrise und die noch immer verbreiteten Vorbehalte gegenüber der parlamentarischen Demokratie. Er nannte aber auch die seiner Ansicht nach unverhältnismäßigen Bedingungen des Friedens von Versailles.
Im Zuge der Analyse der innen- und außenpolitischen Situation in Deutschland warnte er vor einem weiteren Machtgewinn der Nationalsozialisten. Insbesondere vor deren Fanatismus und den menschenfeindlichen Ansichten. Der Schriftsteller forderte deshalb das Bürgertum dazu auf, sich stattdessen auf die Seite der Sozialdemokratie zu stellen, und rief die demokratischen Kräfte dazu auf, zusammenzuarbeiten, bevor es zu spät sei. Er thematisierte dazu typische Vorurteile des Bürgertums den Sozialdemokraten gegenüber und hob deren Leistungen nach dem Ersten Weltkrieg hervor. Vor allem die Politik des im Jahr zuvor verstorbenen Gustav Stresemann sollte seiner Meinung nach weitergeführt werden.
Damit bezog er in einer für ihn eher ungewohnt nüchternen und deutlichen Art politisch Stellung.

Reaktionen
Trotz kurzfristiger Ankündigung verlief die Veranstaltung nicht störungsfrei. Eine Gruppe von Nazi-Sympathisanten versuchte, durch Zwischenrufe zu provozieren, und es sollen zudem zwanzig SA-Männer anwesend gewesen sein. Ein darauf reagierender Polizeieinsatz löste weitere Unruhen aus und Thomas Mann wurde nach seiner Rede vorsorglich in Sicherheit gebracht.
Die Rede selbst traf auf gemischte Reaktionen. In der nationalsozialistischen Presse wurde sie erwartungsgemäß zerrissen, während die wichtigen sozialdemokratischen Zeitungen Teile der Rede publizierten. Thomas Mann drückt in einer späteren Rede aber vor allem seine Enttäuschung darüber aus, dass sein Appell an das Bürgertum größtenteils keinen Anklang gefunden hatte und diese stattdessen dazu beigetragen hatten, Hitler an die Macht zu bringen.
Dennoch führte er seine Appelle und Mahnungen an die deutsche Bevölkerung in den folgenden Jahren fort. In weiteren Reden und Publikationen, aber vor allem in seinen berühmten Ansprachen „Deutsche Hörer!“. Diese entstanden zwischen 1940 und 1945 aus dem Exil für das deutsche Programm der BBC. Thomas Mann konfrontierte darin die deutschen Zuhörer mit den Verbrechen der Nationalsozialisten und leistete Aufklärungsarbeit.

Thomas Mann als unpolitischer Schriftsteller?
Obwohl Thomas Mann heute durch Reden wie Appell an die Vernunft und seine Radioansprachen als politischer Essayist und „Verteidiger der Demokratie“ bekannt ist, war sein Verhältnis zum politischen Aktivismus nicht immer klar erkennbar.
Im Vergleich zu seinem Bruder Heinrich gilt er als jemand, der es lange vermied, eindeutige, gesellschaftskritische Inhalte in sein künstlerisches Schaffen einzubinden. Vor allem durch die Veröffentlichung von Betrachtungen eines Unpolitischen (1918), aber auch durch seine positive Einstellung gegenüber dem Ersten Weltkrieg wird er zudem oftmals als phasenweise konservativ-monarchistisch oder eben unpolitisch interpretiert. Seine politische Einstellung und sein Demokratieverständnis lassen sich jedoch nicht so einfach aus seinen Werken herauslesen. Denn sie sind von Ironie, Skepsis und auch bewussten Widersprüchen geprägt.
In jungen Jahren hatte er sich bereits gegen Zensur und für Pressefreiheit eingesetzt und in den frühen 20er Jahren begonnen, die Nationalsozialisten zu kritisieren. Trotzdem wird sein späterer demokratischer Aktivismus, vor allem die beiden Reden Von deutscher Republik und Deutsche Ansprache. Ein Appell an die Vernunft entweder als Bruch mit seinen vorherigen politischen Einstellungen oder als eine Art Wandel vom politischen Kommentator zum Aktivisten wahrgenommen.
Thomas Mann selber soll seinen Aktivismus für die Demokratie nicht als Bruch mit seinen früheren Überzeugungen gesehen haben.

Verlassen der künstlerischen Sphäre
Thomas Mann begann Deutsche Ansprache. Ein Appell an die Vernunft, indem er erklärte, warum er die künstlerisch-ästhetische Sphäre verlässt, in welcher er sich nach eigener Wahrnehmung üblicherweise bewegte.
„Dennoch gibt es Stunden, Augenblicke des Gemeinschaftslebens, wo solche Rechtfertigung der Kunst praktisch versagt; wo der Künstler von innen her nicht weiterkann, weil unmittelbare Notgedanken des Lebens den Kunstgedanken zurückdrängen, krisenhafte Bedrängnis der Allgemeinheit auch ihn auf eine Weise erschüttert, daß die spielend leidenschaftliche Vertiefung ins Ewig-Menschliche, die man Kunst nennt, […] zur seelischen Unmöglichkeit wird.“
Thomas Mann: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Band XI, Frankfurt am Main 1974, S. 870-890.
Er empfand also die Lage, in der sich die deutsche Gesellschaft befand, als so bedrohlich und belastend, dass es ihm nicht mehr möglich war, seiner Kunst nachzugehen. Zugleich schien er das Bedürfnis gehabt zu haben, seine Gedanken dazu mit der ihm zur Verfügung stehenden Öffentlichkeit zu teilen und an sie zu appellieren. Eine Intervention, die man so von verschiedenen Künstler*innen in Vergangenheit und Gegenwart kennt.
Das Erstarken rechter Bewegungen und deren Gefahr für Freiheit und Demokratie sehen wir heute wieder. So birgt nicht nur die Maßnahme sondern auch die Mahnung des Schriftstellers weiterhin Relevanz.
Poeta politicus: Thomas Mann zum 150. Geburtstag - Geschichtsbewusst - Konrad-Adenauer-Stiftung
Lektüre-Workshop „Deutsche Ansprache. Ein Appell an die Vernunft“ – Deutsche Thomas Mann-Gesellschaft
LeMO Biografie - Thomas Mann
150 Jahre Thomas Mann - Verteidiger der Demokratie
Thomas Mann: Vom Monarchisten zum Demokraten | ndr.de
A. Blödorn/F. Marx (Hrsg.): Thomas Mann Handbuch, 2015.
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