Demokratiegeschichten

Westhafen – Der Weg ist das Ziel

Es ist einer von diesen Orten, die auf dem Weg liegen, aber nie Ziel desselben sind. Ich meine die Berliner U-Bahnstation Westhafen. Hier hetze ich regelmäßig durch Tunnel, um den Anschluss von der Ringbahn zur U9 zu bekommen. Meistens gelingt mir das auch, aber letzte Woche hatte ich Pech: Zugverspätung – Gleisstörung.

Tja, und nun? Warten, Zeit tot schlagen. Ich bin kurz davor, mein Handy aus der Jacke zu kramen, da fällt mein Blick auf die Wand gegenüber.

JEDERMENSCHHATANSPRUCHAUFWIRKSAMENRECHTSSCHUTZVORDENZUSTÄNDIGENINNERSTAATLICHENGERICHTEN …

Bitte, was? (Um nicht zu sagen – Häh?) Nach angestrengtem Starren kriege ich die Worte auseinander:

JEDER MENSCH HAT ANSPRUCH AUF WIRKSAMEN RECHTSSCHUTZ VOR DEN ZUSTÄNDIGEN INNERSTAATLICHEN GERICHTEN …

Das Internet klärt mich darüber auf, dass es sich hierbei um den 8. Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte handelt. Aber was macht der hier im Westhafen?

Die Menschenrechte schreiben

Nicht nur Artikel 8, sondern alle 30 Artikel der Erklärung finden sich an den Wänden der U-Bahnstation.

Nach weiterem Googlen stoße ich auf die Seite von  „INSCRIRE – die Menschenrechte schreiben„. Deren Initiatorin Francoise Schein ist mitverantwortlich für die Umgestaltung der Station Westhafen. Für sie ist die Erklärung der Menschenrechte die wichtigste Grundlage für gesellschaftliches und politisches Zusammenleben. Gleichzeitig interessiert sie sich für Netzwerke. Aus der Verbindung beider Themen entstand ihre Projektidee.

Denn wo kann man Menschen besser ihre Rechte vor Augen führen als an Orten, an denen sie täglich vorbeifahren? Bremen, Paris, Haifa, Rio de Janeiro, New York – Berlin und die Station Westhafen sind Teil eines länderübergreifenden Projektes.

Das Projekt im Westhafen

Beim Durchschauen der Internetseite von Francoise Schein wird mir klar, dass die Orte der Projekte mit Bedacht gewählt sind. Jeder Ort stellt die Menschenrechte in einen anderen Kontext. So auch der Westhafen, der durch INSCRIRE zum Erinnerungsort begangener Menschenrechtsverletzungen wird:

Die U-Bahnstation liegt unweit der Hinrichtungsstätte Plötzensee. Dort internierten und ermordeten Nationalsozialisten ca. 3000 Menschen, u. a. aus politischen und religiösen Gründen. Über der Station liegt die Putlitzbrücke, die den Güterbahnhof Moabit überspannt. Ab Januar 1942 wurden von dort jüdische Bürger*innen Berlins in die Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert.

Als Kontrast zu den Menschenrechtsartikeln hat die Philosophin Barbara Reiter Abschiedssätze auf den Fliesen der U-Bahn-Station angebracht.

Auch das Zitat von Heinrich Heine, dass sich wie ein Band oder eine Einleitung zu den Gleisen zieht, steht in diesem Kontext. Nacheinander geht es um den Verlust des Namens, dann der Persönlichkeit, der persönlichen und Menschenrechte und schließlich des Lebens selbst.

Zum ersten Mal seit langem ärgere ich mich ausnahmsweise nicht über eine Bahnverspätung. Sondern freue mich, durch die Extrazeit im Westhafen etwas gelernt zu haben. Wer weiß, was ich beim nächsten Mal Pendeln mit offenen Augen entdecke…

Habt ihr ähnliche Erfahrungen gemacht und Orte gefunden?

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Über uns 
Annalena B. arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. als Projektkoordinatorin im Bereich Demokratiegeschichte.

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