Demokratiegeschichten

Das Wagner-Problem

Kann man ein Werk von seinem oder seiner Urheber:in trennen? Können wir die darin vermittelten Botschaften als Zeugnisse einer vergangenen Zeit annehmen auch wenn sie aus heutiger Sicht hoch problematisch sind? Oder sollten wir solche Stücke, Lieder und Bilder lieber bei Seite legen? Wann stoßen Neuinterpretationen an ihre Grenzen?

Alle diese Fragen sind in Kulturbetrieben ganz alltäglich. Aber auch zuhause beschäftigen sie uns immer wieder: Nach sexistischen Äußerungen des Frontsängers wird das Poster der Lieblingsband abgehängt. Und wer sich heute eines der bekannten „Pippi“-Kinderbücher von Astrid Lindgren kaufen möchte, greift dabei oft zu einer neuen, überarbeiteten Fassung in der schlichtweg vom „Südseekönig“ die Rede ist.

Die Probleme, Reaktionen und Lösungsansätze sind vielfältig. Trotzdem finden manche Debatten scheinbar kein Ende. Kaum ein Künstler hat so viele langlebige Kontroversen hervorgerufen wie der deutsche Komponist Richard Wagner – von den Nationalsozialist:innen verehrt und bis heute als genialer Künstler gefeiert. Dabei trafen neben seiner Musik auch seine antisemitischen Äußerungen bei vielen Zeitgenoss:innen auf offene Ohren. Nicht zuletzt aus diesem Grund steht Richard Wagner seit Mitte des letzten Jahrhunderts immer wieder im Zentrum heftiger Kontroversen. Heute vor 140 Jahren wurde seine letzte Oper „Parsifal“ uraufgeführt.

Richard Wagners Aufstieg 

Geboren am 22. Mai 1813 prägte Richard Wagner das 19. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum entscheidend mit. Schon im Kindesalter begann seine Begeisterung für Musik, Dramen und nicht zuletzt für die Oper. Bis zu seiner Anerkennung als Ausnahmekünstler sollte es allerdings noch Jahrzehnte dauern: Jahre, in denen er mehrmals vor wachsenden Schuldenbergen und strafrechtlicher Verfolgung fliehen musste.

Anfang der 1860er verbesserte sich die Lage für Richard Wagner allmählich. Von seinem Bewunderer und größten Geldgeber, dem bayrischen König Ludwig II., bekam er zunächst genug Rückenwind um sein größtes Werk, der „Ring des Nibelungen“, zu beenden. Fortan liefen seine Stücke auf den alljährlichen sogenannten Bayreuther Festspielen. Innerhalb kurzer Zeit entwickelte sich das eigens für Wagners Werke errichtete Festspielhaus in Bayreuth zu einem kulturellen Fixpunkt des Landes. Monarch:innen, Gelehrte, Großunternehmer:innen… alle machten sich auf den Weg nach Bayreuth, um die Werke eines der größten deutschen Komponisten zu bewundern.

Nur ein Kind seiner Zeit?

Neben seinen Kompositionen revolutionierte Richard Wagner die deutsche Musikgeschichte durch die Weiterentwicklung einzelner Instrumente. Als Person öffentlichen Interesses nahm er auch politischen Einfluss auf die deutsche Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Wie viele seiner Zeitgenoss:innen war Wagner fasziniert von der Idee einer starken, deutschen Nation, getragen von einem uralten „Volksgeist“. Für diese Nation hatte er sich in der Märzrevolution 1848 engagiert. Sie verkörperte er in seinen Werken über deutsche Sagen und nordische Mythen, menschliche Abgründe und überirdische Erlösungen. Sie glaubte er auch zu verteidigen als er 1850 und 1868 in einem Pamphlet öffentlich gegen den „Einfluss der Juden auf unsere Musik“ wetterte.

Das Bayreuther Festspielhaus um 1900, Foto: unbekannt, gemeinfrei.

Familie Wagner und Adolf Hitler

1883, ein Jahr nach der Veröffentlichung seiner letzten Oper „Parsifal“, starb Richard Wagner. Angesichts des ausgeprägten Nationalismus – und nicht zuletzt seines populären Antisemitismus – verwundert es nicht, dass Wagners Beliebtheit die kommenden Jahrzehnte überdauerte.

Einen besonderen Kultstatus erhielt Richard Wagner geradezu im Nationalsozialismus. Adolf Hitler selbst bezeichnete „Parsifal“ als seine Lieblingsoper. Darüber hinaus erhielt das Festspielhaus in Bayreuth den Status einer Pilgerstätte und Wagners Musik begleitete offizielle Propagandaveranstaltungen. Seine Opern dienten dadurch der Verbreitung nationalsozialistischer Ideologien.

Die Verstrickung von Wagners Erbe mit dem Nationalsozialismus ging jedoch weit über die Instrumentalisierung eines verstorbenen Künstlers hinaus: Nach Richard Wagners Tod wandelten sich die Bayreuther Festspiele und das dazugehörige Festspielhaus zu einem Familienunternehmen. Bis heute liegt es in den Händen seiner Nachkommen. Auch ihre Geschichte ist Teil der Kontroversen um das kulturelle Erbe von Richard Wagner.

In der Schwiegertochter Richard Wagners und späteren Leiterin der Festspiele, Winifred Wagner, fand Adolf Hitler persönlich eine seiner treuesten Verbündeten. Bereits 1923 freundete sich Winifred mit dem radikalen und ehrgeizigen Politiker an und unterstützte ab 1926 als Parteimitglied kräftig seinen Aufstieg. Die nahe Verbindung zwischen der Familie Wagner und den führenden Nationalsozialisten kam dabei nicht überraschend. Seit Richard Wagners Lebzeiten verkehrten sie vorrangig in nationalkonservativen Kreisen. Während des Nationalsozialismus wehrte sich Friedelind Wagner, eine Tochter Winifreds, als einzige aus der Dynastie gegen die Vereinnahmung des Familienerbes.

Richard Wagner neu interpretiert

Nach dem Krieg sackten Ruhm und Reichtum der Familie Wagner zunächst in sich zusammen. Da sie in Entnazifizierungsprozessen als Minderbelastete und Mitläufer:innen eingestuft wurde, durfte die Familie die Bayreuther Festspiele ab 1951 jedoch weiter führen. Die neuen Leiter und Söhne Winifreds, Wieland und Wolfgang Wagner, bemühten sich schnell dem „alten Bayreuth“ den Rücken zu kehren. Dazu gehörten moderne Inszenierungen, die eine neue, zeitgemäße Botschaft vermitteln sollten.

An die Grenzen stieß dieses Experiment scheinbar im Juli 1976. Zum hundertjährigen Jubiläum der Bayreuther Festspiele präsentierte der französische Regisseur Patrice Chéreau eine Neuinszenierung des „Rings des Nibelungen“. Mit der modernen und gesellschaftskritischen Darstellung gelang es Chéreau eine vollkommen neue Interpretation des Werkes aufzubauen. Statt eines göttlichen Herrschers, erschien vor dem Publikum ein mächtiger Kapitalist, daneben Arbeiter:innen und Sklav:innen. Für seine Inszenierung umging Chéreau einige Regieanweisungen Wagners bewusst. An der Musik und am Text änderte sich wiederum nichts.

Bereits zu Beginn der Darstellung unterbrachen laute Protestrufe aus dem Publikum die Vorstellung. Dabei wurde nicht nur die vermeintlich kommunistische Propaganda des Regisseurs kritisiert, sondern generell jegliche Form der politischen Darstellung hinterfragt. Chéreaus Inszenierung, so der Vorwurf, missbrauche die scheinbar unpolitische, reine Kunst Wagners.

Ein wertvolles und schweres Erbe

In den Folgemonaten und -jahren nach Chéreaus „Jahrhundertring“ rankten sich hitzige Debatten um den vermeintlich „wahren Wagner“: Wie waren Wagners Stücke tatsächlich zu interpretieren? Konnte man sie als nationalkonservative Propaganda verstehen und ablehnen? Auf der einen Seite der Debatte plädierten „Wagnerianer:innen“ für eine möglichst originalgetreue Inszenierung, in der sie keine problematische Kontinuität nationalistischer, antisemitischer Ideale sahen. Die andere Seite distanzierte sich kritisch von Wagners Werk, lobte Neuinszenierungen oder strich Wagner insgesamt aus dem Repertoire.

Seit den letzten beiden Jahrzehnten ebben die Debatten um Richard Wagner und sein Werk immer weiter ab. Für viele ist Wagner ein Komponist unter vielen geworden, dessen gewaltiger Einfluss auf die deutsche Musikgeschichte aber nicht negiert werden darf. Derweil ist immer noch unklar, wie Wagners Werke gezeigt werden können. Wie stellen wir einen Künstler dar, der einerseits großes geleistet hat, andererseits antisemitische und problematische Botschaften verbreitete?

Klar wird im Rahmen dieser Fragen vor allem eines: Kunst entsteht nicht im luftleeren Raum. Ebenso wenig können wir Künstler:innen von jedwedem Zeitgeist lossprechen. Gerade mit Blick auf die problematischen Seiten der deutschen Geschichte ist eine Untersuchung der überlieferten Kunstwerke, meiner Meinung nach, unbedingt notwendig. Nur so kann die Weiterverbreitung intoleranter und destruktiver Ideen und Denkmuster verhindert werden. Gleichzeitig gilt es, sich der Herausforderung zu stellen und dieses kulturelle Erbe kritisch aufzuarbeiten – ohne dabei zu übersehen, welcher Wert darin steckt. Was das heißt und worin sich dieser Wert zeigt, bleibt Teil der Debatte um Richard Wagner und seine Werke.


Titelbild: Richard Wagner 1871, Foto: Franz Hanfstängl, gemeinfrei. 
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Über uns 
Ines studiert Public History an der Freien Universität Berlin und arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V.

2 Kommentare

  1. Dr. Matthias Duncker

    10. August 2022 - 7:34
    Antworten

    Proust und Hugo sind voll mit Antisemitismus!!!
    Barenboim sagt, ja, man MUSS Werk und Biografie trennen, ohne es dabei auszublenden, da Wagners Musikdramen die Tür zur modernen Musik aufgestoßen haben. Rienäcker hat stets betont, dass Wagners Werk in seinem scheußlichen Antisemitismus nicht aufgeht. Der Beitrag fällt weit hinter die Forschung der letzten 40 Jahre zurück, dabei habe ich noch gar nicht Dahlhaus, meinen Spiritus Rektor, zitiert!
    Dr. Duncker

  2. Dr. Matthias Duncker

    10. August 2022 - 8:33
    Antworten

    Ergänzung: Ja, Alberich und Mime sind zum Beispiel von Wagner gezeichnete antisemitische Juden-Karikaturen. Aber die entscheidende Frage ist doch, ob wir sie heute immer noch so lesen und verstehen müssen!

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