Demokratiegeschichten

Gendern und Demokratie

Fast vier Jahre sind die Demokratiegeschichten nun online. Viele tolle Kommentare haben wir in der Zeit bekommen. Lob, Anmerkungen, Berichtigungen, abweichende Meinungen und Darstellungen – all die sind uns willkommen. Explizit auch negative Kritik, denn sonst wüssten wir nicht, wie wir besser schreiben können.

Genderwahn„, „Genderideologie“ und „Sprachfaschismus„. Auch das findet sich in Kommentaren unter unseren Beiträgen. Als Redakteurin, die den Blog von Anfang an betreut hat, kann ich sagen, dass Gendern wohl das am häufigsten negativ kommentierte Thema der Demokratiegeschichten ist.

Ist Gendern Indoktrination?

Thema ist hier nicht im Sinne von Inhalt eines Blogartikels gemeint. Zum Gendern gab es – bis jetzt! – keine Demokratiegeschichte. Wer in die Artikel unterschiedlicher Autor:innen schaut wird sehen, dass sie unterschiedlich – oder auch gar nicht – gendern. Die Richtlinie für den Blog ist: Gendern ist zwar erwünscht, aber keine Pflicht. Vom Redaktionsteam wird kein Druck auf Autor:innen ausgeübt.

Unter Druck scheinen sich allerdings einige unserer Leser:innen gesetzt zu fühlen. Möglicherweise nicht nur von unserem Sprachgebrauch, sondern vom Gendern allgemein. Dass mittlerweile alles „durch und durch ideologisiert“ wird, so hieß es im letzten Kommentar. Steckt hinter Gendern eine Ideologie?

„Das dritte Geschlecht“ und die zweite Welle des Feminismus

Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es. Kein biologisches, psychisches, wirtschaftliches Schicksal bestimmt die Gestalt, die das weibliche Menschenwesen im Schoß der Gesellschaft annimmt. Die Gesamtheit der Zivilisation gestaltet dieses Zwischenprodukt zwischen dem Mann und dem Kastraten, das man als Weib bezeichnet. Nur die Vermittlung eines Anderen vermag das Individuum als ein Anderes hinzustellen.“


Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Rowohlt, Hamburg 1951, S. 265.

Um die bekannten Worte von Simone de Beauvoir anders zu formulieren: Eine Frau ist nicht von Geburt an eine Frau. Diese Rolle nimmt sie durch die Prägung der Gesellschaft an. (Gleiches gilt auch für Männer.)

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Symbol für die Frauenbewegung an einer Hauswand, Foto: Martin Lehmke, CC BY 4.0.

Mit ihrem Buch „Das andere Geschlecht“ läutete de Beauvoir die sogenannte Zweite Welle des Feminismus ein. Erstmals wurde das Geschlecht als Kategorie in den Mittelpunkt einer sozialwissenschaftlichen Untersuchung gestellt. Dabei unterschied de Beauvoir konsequent zwischen biologischem Geschlecht (eng. „sex“) und kultureller bzw. sozialer Prägung (engl. „gender“). Auf diesen Grundlagen bauten die Frauen- und Gender Studies auf.

Parallel engagierte sich die Zweite Welle der Frauenbewegung (ab den 1960ern) gegen die Diskriminierung von Frauen, insbesondere von Müttern. Themen waren u. a. Gewalt an Frauen, bessere Bildungsmöglichkeiten, Gleichheit in der Ehe und auf dem Arbeitsmarkt und grundsätzlich die Überwindung des Patriarchats. Eine bekannte Aktion ist etwa heute noch das Bekenntnis von 374 Frauen zu „Wir haben abgetrieben!“ im Juni 1971.

Feministische Sprachkritik

Auch die deutsche Sprache geriet zunehmend in die Kritik. Sie galt einigen Kritiker:innen als etwas, in dem sich die Unterdrückung der Frauen zeigt. Anderen sogar als Methode der Unterdrückung selbst.

Ein Aspekt von Sprache, über den wir heute noch streiten, ist etwa das generische Maskulinum. Damit ist eine Bezeichnung für Personen oder Berufe in der männlichen Form gemeint, die alle Personen, unabhängig vom Geschlecht mit meinen soll. „Genus ist nicht Sextus“ lautet ein Argument dafür: Das biologische Geschlecht werde nicht angezeigt, nur das grammatikalische.

Dem hielten Sprachkritiker:innen wie Luise Pusch jedoch entgegen:

Das generische Maskulinum macht Frauen besser unsichtbar als jede Burka.

Luise Pusch, u. a. auf fembio.

Das mag eine extreme Formulierung sein. Doch Studien zeigen, dass sich die meisten Menschen bei Formulierungen, die das generische Maskulinum benutzen, vor allem Männer vorstellen. Und weiter: In vielen Fällen sind mit dem Genus nicht nur Vorstellungen des biologischen Geschlechts verbunden. Sondern es werden auch soziale Erwartungen daran festgemacht.

Sprache legt die Wahrnehmung von Menschen zwar nicht in vollem Umfang fest. Doch kann sie diese entscheidend beeinflussen. Und damit Auswirkungen auf Dinge wie Berufsvorstellungen haben, von Erwachsenen wie Kindern:

Wenn etwa Berufe sowohl in einer männlichen als auch in einer weiblichen Form (Ingenieurinnen und Ingenieure) vermittelt werden, schätzen Kinder typisch männliche Berufe als erreichbarer ein und trauen sich selbst eher zu, diese zu ergreifen, wie eine andere Untersuchung ergeben hat.

Süddeutsche, Henning Lobin und Damaris Nübling: Tief in der Sprache lebt die alte Geschlechterordnung fort, 07.06.2018.

Feminismus für alle

Damit wären wir in der dritten Welle des Feminismus angekommen, die sich seit den 1990er Jahren abzeichnet. Einige Ideen der Zweiten Welle werden fortgesetzt, andere geändert. Und natürlich kommen auch neue hinzu: Im Zentrum der Bewegung sollen nicht mehr nur weiße Frauen stehen, sondern Menschen jeder Herkunft.

Sei kein Mann

Auch Männer sind explizit mitgedacht. Denn auch Männlichkeit ist je nach Zeit und Region ein Konstrukt, an das Erwartungen gebunden sind, die hinterfragt werden müssen. Es sollte für Männer beispielsweise genauso akzeptabel sein, zu Hause bei den Kindern zu bleiben, statt der Brotverdiener der Familie zu sein. (Mehr zum Thema findet ihr z. B. in dem Buch Sei kein Mann. Warum Männlichkeit ein Albtraum ist von J.J. Bola.)

Dass in den letzten Jahren immer wieder neue Sonderzeichen zum Gendern auftauchen, zeigt auch, dass sich Feminismus und Sprachkritik weiterentwickeln. Von einem binären zu einem nicht-binären System. Wichtig dabei ist und wird sein, die Form nicht vor den Inhalt zu stellen. Denn:

Wenn unter prügelnden Polizist*innen keine einzige Frau ist oder doch nur Männer auf einer Redner*innenliste stehen, zerreißt die Verbindung von sprachlicher Form und Inhalt. Im ersten Fall handelt es sich um eine irreführende Berichterstattung, im zweiten um eine entschieden unfeministische Einladungspolitik.

genderleicht.de/Koschka Linkerhand: Gendern: Macht Feminismus sichtbar! 12.05.2021.

Gerechtigkeit durchs Gendern

Für mich hängen Gendern und Demokratie eng zusammen. Ich möchte, dass sich möglichst viele Leute in meinen Texten wiederfinden. Männer, Frauen, weder noch, beides, dazwischen, diverse, andere – wir sind eine vielfältige Gesellschaft, das sollte sich auch in Sprache wiederfinden.

Sicherlich lösen wir durch das Gendern nicht alle Probleme, die unsere Gesellschaft heute noch mit Gleichberechtigung hat. Mir wäre es lieber, auf dem Blog (und in den Medien sowie der Politik) würde mehr über Gender Pay Gap, toxische Männlichkeit, Gewalt gegen Frauen und Personen des Queer-Spektrums diskutiert.

Doch wer eine gerechte Welt will, braucht auch eine gerechte Sprache. Dementsprechend eine geschlechtergerechte Sprache, durch die alle Menschen Anerkennung erfahren. Und das ist immerhin etwas wert. Ein kleines Ausrufezeichen. Oder auch einen *.

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Annalena B. arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. als Projektkoordinatorin im Bereich Demokratiegeschichte.

2 Kommentare

  1. Dr. Eberhard Schürmann

    18. November 2022 - 13:32
    Antworten

    Nach meinem Eindruck dreht das „Gendern“ die bisherigen Verhältnisse um: Bisher hieß es als Vorspruch in manchen Texten „Wenn die männliche form gewählt wurde, ist die weibliche mit gemeint“. Die Schreibweise „Bürger*Innen“ ist nur die weibliche Form. Und das * soll bedeuten, dass die Männer mit gemeint sind.

    • Annalena B.

      18. November 2022 - 13:40
      Antworten

      Da scheint es ein Missverständnis zu geben. Die Schreibweise Bürger*innen ist nicht nur die weibliche Form. Stattdessen umfasst sie männliche, weibliche und durch das * auch nicht-binäre und diversgeschlechtliche Personen. Daher rührt auch die Pause in der Aussprache (statt Bürgerinnen zu sagen), um anzuzeigen, dass nicht nur Frauen gemeint und gesagt sind, sondern alle Geschlechter.

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