Im Rahmen des V. Parteitages der SED im Juli 1958 verkündete Walter Ulbricht die sogenannten „Zehn Gebote für den neuen sozialistischen Menschen“. Unverkennbar ahmte der damalige Regierungschef der DDR damit die biblischen Gebote des Alten Testaments nach.
Was westliche Medien amüsiert als peinliche Übertreibung abtaten, stand in der DDR stellvertretend für die intolerante Kirchenpolitik des Staates. Politische Ideologie vor Religion – oder noch besser: als deren vollständiger Ersatz. Während die sozialistischen „Zehn Gebote“ schnell an Bedeutung verloren, setzte sich die Opposition zwischen Staat und Kirche fort.
Eingeschränkte Kirchen in der DDR
Laut der Verfassung der DDR vom 7. Oktober 1949 wurde allen Staatsangehörigen die volle Religionsfreiheit gestattet. In der Realität griff die Regierung jedoch zu zahlreichen Kniffen, um dieses Recht massiv zu beschneiden. Nicht nur gerieten kirchliche Organisationen vermehrt ins Fadenkreuz der Stasi. Bei Privatpersonen führte die offene Religionsausübung beispielsweise auch zu Einschränkungen in Bildung und Karriere.
Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre erfolgten mehrere Verbote und politische Kampagnen gegen kirchliche Jugendorganisationen und Junge Gemeinden. Parallel dazu erschuf der Staat Alternativen, um vor allem die Jugend enger an sich zu binden. Statt in einer kirchlichen Jugendgruppe sollten sich alle in der „Freien Deutschen Jugend“ organisieren. Als Ersatz für die Konfirmation oder Firmung wurde 1954 die Jugendweihe eingeführt. Der Kurs des Regimes zeigte Erfolge: Bis 1988 war die Zahl der Kirchenangehörigen auf 40% der Gesamtbevölkerung gesunken und der Einfluss der Kirche dadurch erheblich zurückgedrängt. Aber warum das alles?
Kirchen als Klassenfeind?
Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer
Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1844)
herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.
War in Marx‘ Augen Religion nicht mehr als ein überflüssiger Ersatz für „wirkliches Glück“, erklärte sie der spätere sowjetische Diktator Lenin zum offenen Feind der marxistisch-leninistischen Arbeiterbewegung. Aus dem „Opium des Volks“ wurde „Opium für das Volk“ – Teil einer Verschwörung der bürgerlichen Eliten zur Unterdrückung der Arbeiter:innen. Dementsprechend galt es für Lenin, die Religion „auszurotten“.
Eine derartige, offensive Kampfansage konnte sich das SED-Regime nicht erlauben. Schließlich stellte sich die Regierung als demokratisch gewählte Staatsspitze dar. Zum demokratischen Schein gehörte zwangsläufig auch die Gewährung der Religionsfreiheit. Dennoch wurden bereits vor der offiziellen Staatsgründung 1949 die Kirche misstrauisch beäugt. Im Sinne Marx sollte der Sozialismus Religion zumindest überflüssig machen.
Staatsdoktrin als Staatsreligion
Als am 17. Juni 1953 ein landesweiter Volksaufstand ausbrach, ließen sich die Probleme des Systems nicht weiter verdecken. Statt Reformen anzustreben, reagierte das Regime jedoch zunächst mit einer harten Niederschlagung des Aufstands. In Folge beteuerten lautstarke Propaganda-Kampagnen, dass es sich bei den Urheber:innen der Ausschreitungen um Feinde aus dem Westen handelte. Damit gerieten auch die Kirchen mit ihren Westkontakten in öffentliche Kritik.
Gleichzeitig suchte das Regime Wege, die Gesamtbevölkerung zu treuen Anhänger:innen des Staates zu machen. Der leninistisch-marxistische Atheismus wurde in pseudoreligiöse Parolen verpackt und sollte so seine inklusive Wirkung entfalten. Ein Höhepunkt dieser strategischen Linie stellten zweifellos die „Zehn Gebote für den neuen sozialistischen Menschen“ dar.
„Zehn Gebote für den neuen sozialistischen Menschen“
Vom 10. bis zum 16. Juli 1958 tagte die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands zum fünften Mal seit der Entstehung der DDR. Die Jahre zuvor waren von einer wirtschaftlichen Krise geprägt gewesen. Auch an die politischen und gesellschaftlichen Folgen der Krise, sichtbar im Juni 1953, konnten sich die meisten Parteifunktionäre wohl noch gut erinnern. Was nun folgen sollte war der geschlossene Aufbruch des Landes. So plante Ulbricht einen steigenden Lebensstandard in der DDR, womit sie den Westen weit in den Schatten stellen würde. Ein Teil des Erfolgsrezeptes bildeten Geschlossenheit und Ehrgeiz der „neuen, sozialistischen Menschen“. Hierfür formulierte Ulbricht die zehn berühmten, moralischen Grundsätze.
„Du sollst…“ – Damit begann jeder Aufruf. Die zehn Aufforderungen erhielten zwar nicht den Rang von Gesetzen, sollten moralisch aber genauso bindend sein wie ihr religiöses Gegenstück. Dementsprechend wurden Ulbrichts „Gebote“ im kommenden Jahrzehnt eifrig gedruckt und verteilt. In Schulen, bei der Jugendweihe und sogar im Parteiprogramm der SED fanden sie sich wieder. Die neue, sozialistische Ideologie hatte die alte, überkommene Religion abgelöst – so die Theorie. In der Realität ging dieser Plan nicht ganz auf.
Die 1970er: Eine Zeitenwende?
Als Walter Ulbricht 1973 starb war es um ihn längst still geworden. Zwei Jahre zuvor, im Mai 1971, hatte ihn sein Nachfolger Erich Honecker mit Zustimmung des sowjetischen Diktators Breschnew zum Rücktritt gezwungen. Ulbrichts „Gebote“ fanden sogar schon Mitte der 1960er kaum noch Erwähnung inner- und außerhalb der Partei. Mit dem Wechsel an der Staatsspitze schien nun die Öffnung zum Westen und ideologische Lockerungen möglich. 1975 beteiligte sich die DDR-Spitze sogar am internationalen Friedens- und Sicherheitskongress KSZE und versicherte damit die Wahrung von Menschen- und Bürgerrechten.
Hinter der Fassade des Regimes änderte sich derweil nicht viel: 1976 wurden die „Zehn Gebote“ Ulbrichts lediglich durch eine kürzere Formel im Parteiprogramm ersetzt. Die „Normen der sozialistischen Moral und Ethik“ blieben unangefochten, ebenso die Methoden mit denen Oppositionelle weiterhin verfolgt wurden. Doch auch auf der Gegenseite lehnten nach wie vor viele Menschen die ideologische Vereinnahmung durch die Staatsspitze ab.
Gläubige wehren sich – Kirchen in der Opposition
Trotz der staatlichen Alternativen und einschränkenden Maßnahmen blieben Kirchen in der DDR ein aktiver Teil der Gesellschaft. Vor allem die protestantische Kirche war im ganzen Land vertreten. In Form von Studierendengemeinden, Jungen Gemeinden, regulären Gemeinden und aktivistischen Arbeitskreisen bot sie einen Schutzraum für Oppositionelle. Vom Staat in eine Außenseiter-Rolle gedrängt, hatte sie sich zu einer natürlichen Sammelstelle für regimekritische Meinungen gewandelt. Gefährlich blieb das kirchliche Engagement damit sowohl für den Staat als auch für die Gläubigen.
Ein Programmpunkt der viele christliche und nicht-christliche Oppositionelle einigte: Frieden gegen Aufrüstung und Repression. An der Entstehung der internationalen Friedensbewegung in den 1970er Jahren beteiligte sich vor allem die protestantische Kirche in der DDR maßgeblich. Mit dem Symbol der „Schwerter-zu-Pflugscharen„, einer gemeinsamen „Friedensdekade“ mit Kirchen der BRD und anderen zivilen Initiativen protestierten viele Menschen für eine umfassende Neugestaltung des Systems. Ihrem Engagement ist zu verdanken, dass die Mauer fiel. Damit war auch die einschränkende Religionspolitik des Staates gescheitert. Mehr noch: Mit der fehlenden Religionsfreiheit hatte sich das Regime selbst geschadet. Und die „Zehn Gebote des neuen sozialistischen Menschen“ verschwanden gemeinsam mit anderen SED-Parolen schnell in einer Schublade.
Titelbild: Walter Ulbricht (Mitte) mit dem sowjetischen Staats- und Parteichef Nikita Chruschtschow (links) und dem derzeitigen Ministerpräsidenten Otto Grotewohl (rechts) auf dem V. Parteitag der SED in Berlin, Foto: Horst Sturm, Bundesarchiv Bild 183-57000-0139,
CC-BY-SA 3.0.
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