Demokratiegeschichten

Bestehende Verhältnisse klar benennen und infrage stellen – May Ayim und die deutsche Mehrheitsgesellschaft (II)

Teil I findet ihr hier.

Im Oktober 1990 werden die beiden deutschen Staaten, im Westen die Bundesrepublik Deutschland, im Osten die Deutsche Demokratische Republik, wiedervereinigt. Nachdem die Mauer, die Europa über Jahrzehnte getrennt hat, im Jahr zuvor gefallen ist, sind die Deutschen nun wieder ein Volk. Doch wer bildet eigentlich dieses Volk? Manche gesellschaftlichen Probleme, die Deutschland in den 1990er Jahren beschäftigen, lassen sich auf die Frage zurückführen, wer eigentlich Teil dieses wiedervereinigten, demokratischen Staates sein darf.

Die Zugehörigkeit zur deutschen Nation hängt auch weiterhin stark von der ethnischen Herkunft der jeweiligen Person bzw. von ihrer „Rasse“ ab, ein Begriff, der eigentlich auch schon in den 1990er Jahren veraltet ist. PoC wird durch dieses Denken das Deutschsein grundsätzlich abgesprochen. Daran ändert auch die Wiedervereinigung, die von vielen weißen Deutschen als Sieg der Demokratie verstanden wird, erst einmal nichts. Ayim sieht diese historische Entwicklung angesichts eines erstarkenden Nationalismus und zu- statt abnehmender Diskriminierung von Minderheiten sehr kritisch. Für sie ist es vielmehr eine „Sch-Einheit“.

Höhepunkt rechter Gewalt

Das Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen (Juli 2006). 1992 fanden hier die massivsten rassistisch sowie fremdenfeindlich motivierten Angriffe nach Ende des Zweiten Weltkrieges statt. Quelle: Creative Commons CC BY-SA 3.0

Im Vorwort zur aktualisierten Neuauflage von Farbe bekennen von 1992 ziehen die Herausgeberinnen ein erstes Fazit dazu, wie sich Deutschland und seine Gesellschaft seit der Erstveröffentlichung 1986 verändert hat. Auch darüber, inwiefern Farbe bekennen einen Beitrag geleistet hat, machen sie sich Gedanken. Mit Blick auf Schwarze Organisationen und Initiativen, die seither verstärkt zusammenfinden, sehen die Autorinnen durchaus eine positive Entwicklung.

Sie weisen aber auch auf das Erstarken rechter bis rechtsextremer Parteien überall in Europa hin. Rassistisch motivierte Gewalttaten und Morde sind auf einem traurigen Höhepunkt. Speziell in Deutschland kritisieren die Frauen einen wachsenden Nationalismus, befördert auch durch die deutsche Einheit, die eben vor allem für weiße Deutsche mit Hoffnungen für die Zukunft verbunden ist.

Eine Gesellschaft in Frage stellen

Jede Gesellschaft wird sich früher oder später mit der Frage auseinandersetzen, wer Teil von ihr ist und wer nicht. Vor dieser Herausforderung steht selbstverständlich auch jede Demokratie. Möglicherweise ist das Finden einer Antwort auf derartige Fragen in freiheitlichen Gesellschaften komplizierter, weil Teilhabe und Mitbestimmung hier normative Grundvoraussetzungen sind. In autokratischen Systemen hingegen nehmen die Herrschenden ihren Untertanen solche Entscheidungen meist ab.

Die deutsche Gesellschaft hat sich lange schwergetan, unterschiedliche Herkünfte als selbstverständliches Merkmal aller hier Lebenden zu akzeptieren; manche arbeiten weiterhin dagegen. May Ayim hat Bemerkenswertes geleistet, indem sie die deutsche Gesellschaft, in der sich vor allem weiße Menschen zu Hause fühlen, infrage gestellt hat. In den 1980er Jahren kam dies dem Hinterfragen eines Naturgesetzes nahe.

Texte für die Gegenwart

Viele Texte von May Ayim, obwohl sie in den 1980er und 1990er Jahren verfasst wurden, lesen sich erschreckenderweise wie politische Texte der Gegenwart. Wenn sie etwa beschreibt, was die Angst vor vermeintlicher „Überfremdung“ und einem befürchteten „Identitätsverlust“ weißer Menschen für Auswirkungen auf die Lebensrealität deutscher PoC hat, gleicht das gegenwärtigen rassismuskritischen Texten.

Zwar haben sich in den vergangenen 30 Jahren viele Dinge verändert. So ist etwa die Umbenennung eines Spreeufers in Berlin-Kreuzberg im Jahr 2011 in May-Ayim-Ufer, das bis dahin den Namen eines deutschen Kolonialverbrechers trug, ein gutes Beispiel dafür, wie die Erinnerungskultur einer inklusiven deutschen Gesellschaft aussehen kann. Doch selbstverständlich braucht es noch viel mehr als das.

Auch Anfang der 2020er Jahre ist die Bundesrepublik Deutschland von strukturellem Rassismus geprägt. Dies zeigt sich daran, dass afrodeutsche Geschichte in der Öffentlichkeit weiterhin noch viel zu wenig präsent ist. Um daran etwas zu ändern, braucht es Menschen wie May Ayim, die PoC unter anderem mit Farbe bekennen Möglichkeiten der Identitätsentwicklung aufgezeigt und weiße Deutsche dazu gebracht hat, ihre Privilegien zu hinterfragen.

Bei diesem Text handelt es sich um einen Auszug aus der Publikation Vorbilder der Demokratiegeschichte. Handlungen und Einstellungen, die beeindrucken und Orientierung geben können. Diese und weitere Veröffentlichungen von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. können kostenfrei in der Geschäftsstelle bestellt werden und stehen hier zum Download zur Verfügung.

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Über uns 
Ulli E. arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. als Projektkoordinator im Bereich Demokratiegeschichte.

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