Demokratiegeschichten

Der Stadt einen Namen geben

Einen Namen ändern zu lassen, kann wenige Wochen oder auch mehrere Monate dauern. Im Fall der Stadt Chemnitz ging das ziemlich schnell. Oder besonders langsam – abhängig von der Perspektive. Denn vor 30 Jahren erhielt Chemnitz seinen alten Namen wieder. Zuvor hatte die Stadt für 37 Jahre Karl-Marx-Stadt geheißen.

Die erste Änderung 1953

Alles begann damit, dass das Zentralkomitee der SED das Jahr 1953 zum Karl-Marx-Jahr erklärte. Anlass war der 135. Geburtstag des bedeutenden Theoretikers des Sozialismus und Kommunismus. Ihm zu Ehren und um der Bevölkerung den Sozialismus näher zu bringen, plante die Regierung daher eine Reihe von Maßnahmen. Dazu gehörten beispielsweise die Umbenennung der Universität Leipzig, das Aufstellen von Karl-Marx-Büsten und eine Sonderserie von Briefmarken.

Die wohl bedeutendste und aufsehenerregendste Erziehungs- und Propagandamaßnahme war die Umbenennung einer Stadt. Nachdem Eisenhüttenstadt und Leipzig ausschieden – erstere wurde nach dem kürzlich verstorbenen Stalin benannt, bei Leipzig legte Walter Ulbricht sein Veto ein – fiel die Wahl auf Chemnitz. Mit einem großen Staatsakt wurde die Namensänderung am 10. Mai 1953 vollzogen. Propagiert wurde besonders die Nähe zwischen Karl Marx und den Einwohner*innen der Stadt, viele von ihnen Arbeiter*innen. Diese hatten allerdings bei der Stadtumbenennung kein Mitspracherecht oder Gelegenheit zur Meinungsäußerung. Beschlossen hatten das Zentralkomitee und die Regierung der DDR.

Aufbau von Karl-Marx-Stadt

An die Namensänderung schloss sich zudem ein Wandel im Stadtbild an. Bis Anfang der 1950-er Jahre diente der alte Stadtgrundriss als Anlehnung für den Wiederaufbau von Chemnitz. Historische Gebäude wie das Alte Rathaus wurden wieder errichtet, alte Bautechniken berücksichtigt.

File:Bundesarchiv Bild 183-K1010-0007, Chemnitz, Karl-Marx-Denkmal, FDJ Versammlung.jpg
Einweihung des Karl-Marx-Monument 1971;
Bundesarchiv, Bild 183-K1010-0007 / CC-BY-SA 3.0

Ab 1953 wurde Karl-Marx-Stadt im Sinne einer sozialistischen Musterstadt aufgebaut. Insbesondere in den 1960er- und 1970er-Jahren fanden umfangreiche Bauarbeiten im Stadtzentrum statt. Dazu gehörten u. a. Wohn- und Verwaltungsbauten, die Stadthalle Karl-Marx-Stadt, der Omnibusbahnhof und weitere Anlagen. Ein ursprünglich als Aufmarschplatz geplanter „Zentraler Platz“ wurde als Park an der Stadthalle angelegt. In seiner Nähe findet sich noch heute das 1971 enthüllte Karl-Marx-Monument, manchen besser bekannt als „Nischel“. Die altstädtischen Quartiere verschwanden zusehends aus der Innenstadt.

Die Entwicklung von Karl-Marx-Stadt

Insbesondere die Industrie sorgte für den Aufschwung von Karl-Marx-Stadt. 20 % der Gesamt-Industrieproduktion der DDR waren hier ansässig, ein Großteil der Textil- und Werkzeugmaschinen stammte von hier. Auch im internationalen Wettbewerb gab es in Karl-Marx-Stadt einige Betriebe, die mithalten konnten. Ähnliches galt für den Leistungssport: Viele der DDR-Größen aus Eiskunstlauf, Radsport, Schwimmen und Gewichtheben trainierten in der Stadt.

Doch auch Karl-Marx-Stadt litt gegen Ende der 1980er-Jahre zunehmend unter den wirtschaftlichen Problemen und Demokratiedefiziten der DDR. Auch hier bildeten sich im Sommer und Herbst 1989 ausgehend von den kirchlichen Gruppierungen neue Bürgerinitiativen und -bewegungen. Die erste Demonstration für demokratische Reformen fand in Karl-Marx-Stadt am 7. Oktober statt. Einer der Versammlungsorte der Demonstrant*innen war der Nischel. Diese Demonstration wurde, im Gegensatz zur 2 Tage später stattfindenden Demonstration in Leipzig, noch von der Polizei aufgelöst.

Nach der Friedlichen Revolution

Was im Frühjahr 1953 der Stadtbevölkerung auf diktatorische Weise geschehen war, passierte im Frühjahr 1990 nun auf demokratische Art. Eine Initiative von Bürger*innen sammelte Unterschriften für eine Petition zu einer Um-Rückbenennung der Stadt. Schon in kurzer Zeit hatten sie die erforderliche Anzahl von Stimmen. Daraufhin kam es zu einer Abstimmung unter den Einwohner*innen der Stadt. Immerhin 3/4 der Berechtigten nutzen bis zum 22. April ihr Stimmrecht.

Es fiel deutlich aus: 76 % waren für die Wiederannahme des alten Stadtnamens. Am 1. Juni 1990 beschloss daher das neue und demokratisch gewählte Stadtparlament in seiner ersten Sitzung die Rückbenennung von Karl-Marx-Stadt in Chemnitz.

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Über uns 
Annalena B. arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. als Projektkoordinatorin im Bereich Demokratiegeschichte.

2 Kommentare

  1. Reitz, Hans-Werner

    13. Dezember 2020 - 15:41
    Antworten

    Es ist schon verwunderlich, welche Bocksprünge die Geschicht mit uns macht, oder wir mit uns machen lassen. Ich war als Erstklässler bei der Namensgebung von Karl Marx Stadt mit dabei und wir waren stolz diese „Zeitenwende“ mit zu erleben. Mir sind noch die Begriffe „Rußchemnz“ oder „Dreckchemnitz“ in Erinnerung geblieben. Fast wäre ich ein Chemnitzer geworden, aber durch die Bombennacht vom 5.3.45 wurde dies verhindert. Am Ende wurde ich Mittweidaer, aber Karl Marx Stadt blieb mir am Herzen gewachsen. Das neue Karl Marx Monument habe ich erst weit nach der Wende kennen gelernt. Und wenn die Arbeiter und Bürger der Stadt die Losung, die hinter dem Denkmal steht, richtig lesen und begreifen könnten, dann würde Chemnitz heute noch den Namen Karl Marx Stadt tragen. HaWe

    • Annalena B.

      14. Dezember 2020 - 16:26
      Antworten

      Lieber Hans-Werner,

      das Karl Marx zu den großen Denkern, Philosophen, politischen Theoretikern und Vordenkern der Demokratie gehört – da sind wir uns zweifellos einig. Seine Bedeutung für die Sozialdemokratie fasste u.a. die SPD 2018 zusammen, als sie zum 200. Geburtstag gratulierte: https://www.spd.de/aktuelles/detail/news/happy-birthday-karl/05/05/2018/

      Ich interpretiere das Verhalten/die Abstimmung der Chemnitzer*innen im Frühjahr 1990 deshalb weniger als Abwendung von Karl Marx, sondern viel mehr als Abwendung von seiner jahrzehntelangen Instrumentalisierung durch die SED. Möglicherweise wäre die Abstimmung anders ausgegangen, hätten die Bewohner*innen die Gelegenheit gehabt, sich ein eigenes, nicht staatlich aufgezwungenes Bild von ihm zu machen.
      Würde die Abstimmung heute, 30 Jahre nach dem Ende der DDR stattfinden, wer weiß wie sie dann ausgehen würde?

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