Demokratiegeschichten

Der Tag des Traumas für ein ganzes Land

Vor zehn Jahren stürzte die polnische Präsidenten-Maschine nahe des russischen Smolensk ab: Das Erinnern ist ebenso kompliziert wie wichtig.

„Noch ist Polen nicht verloren“, heißt der berühmte Vers aus der Hymne unseres Nachbarlandes. Dem fühle ich mich persönlich sehr eng verbunden seit meiner ersten Reise 1988, noch im „Kalten Krieg“. Vor genau zehn Jahren, am 10. April 2010, fühlte ich Schmerz und einen Schock, als die Nachricht vom Absturz der polnischen Präsidenten-Maschine beim Landeanflug auf das russische Smolensk Europa und die Welt erreichte. Ich hörte die schreckliche Nachricht damals am Rande eines Projektes in Hannover, der Partnerstadt von Poznań, dem früheren Posen.

Von den politischen Krisen in Polen, die auf die Katastrophe folgen sollten, war zunächst aus meiner Sicht noch wenig zu ahnen. Doch das breite Spektrum von Anteilnahme und von Deutungsversuchen des Unfassbaren bis hin zu politischen Erklärungen, der Suche nach Schuldigen und zu merkwürdig kruden Verschwörungstheorien ließ nicht lange auf sich warten. Präsident Lech Kaczyński und knapp 100 Politikerinnen und Politiker, Beamte, Militärs und Repräsentanten des Staates, die auf dem Weg zu einer großen Gedenkfeierlichkeit waren, starben bei dem Absturz im morgendlichen Nebel. Es ist der Tag des Traumas für ein ganzes Land, das wir hier verstehen müssen. Selbst wenn wir andere Meinungen oder Sichtweisen auf dieses Ereignis haben.

Alte Wunden schlagen neu auf

War es menschliches Versagen? Eine Wetter- und Technik-bedingte Tragödie? Oder die Tat feindlicher Mächte, die Polen schaden woll(t)en? Alten Wunden schlugen neu auf, denn auch von Wurzeln historischen Übels zeugt die Hymne, die Mazurek Dąbrowskiego, ebenfalls schon in ihrer frühen Vers-Version. Von Aggressionen, von Angst und vom Ausbreitungswillen des „Deutschen“ und des „Moskauers“, gegen die das Vaterland Polen verteidigt werden müsse.

Und das macht die ganze Situation vom 10. April meines Erachtens zusätzlich tragisch, schwierig und traurig. Denn die polnische Nation hat wahrlich Finsteres und oft Bedrohliches von West wie Ost aus erlebt, Teilungen und Grenzverletzungen erlitten. Sie hat Leid, Verluste und unterschiedlichste Opfer zu beklagen, über die zum Beispiel im deutsch-polnischen Verhältnis immer, wirklich stetig neu, gemeinsam in Anteilnahme und im Versöhnungswillen zu reden sein wird. Nicht allein wegen der Shoah, die sich im Zweiten Weltkrieg zu weiten Teilen auf dem Boden des brutal besetzten Landes Polen unter der deutschen Verantwortung zutrug.

Auf dem Weg nach Katyn

Katyn war das Reiseziel der polnischen Repräsentanten in der Tupolew der landeseigenen Luftwaffe gewesen, eben zum gemeinsamen Gedenken. Dort sollte an die politischen Massenmorde des sowjetischen Geheimdienstes NKWD erinnert werden. Tausende polnische Militärs, die verschleppt worden waren, fanden 1941 dort den Tod. Fast allesamt Vorkriegs-Eliten der zweiten polnischen Republik, derer sich der russische Diktator Josef Stalin entledigen wollte. Auf ihn ging der Mordbefehl zurück, das gilt als gesichert. Und das NS-Regime instrumentalisierte umgekehrt die Entdeckung der Massengräber zwei Jahre später, um wiederum von den eigenen Verbrechen abzulenken und um das gegen Adolf Hitler kämpfende Bündnis der alliierten Mächte zu entzweien.

Noch lange nach dem Kriege leugnete die Sowjetunion die Verantwortung für Katyn. Sie zwang sogar die Menschen und Trauernden in der kommunistischen Volksrepublik Polen zu einer Um-Datierung und einer Geschichtsfälschung, um den Deutschen die Täterschaft zu unterstellen. In den 1990er Jahren folgte eine russische Entschuldigung an das polnische Volk. Vor zehn Jahren gedachten die Ministerpräsidenten Donald Tusk und Wladimir Putin erstmals gemeinsam der ermordeten Opfer. Und zwar drei Tage vor dem verheerenden Flugzeugabsturz, dessen Folgen das polnisch-russische Verhältnis rasant wieder verdüsterten.

Tiefe Gräben

Von vermeintlichen Ungereimtheiten in Analysen bis zu Verwechslungen bei Bestattungen reicht der Bogen der Berichterstattung. Und in Polen selbst riss die Katastrophe tiefe Gräben auf. Etwa zwischen dem politisch offensiv tätigen Zwilling Jarosław, dem Bruder des verstorbenen Präsidenten, und Lech Wałęsa, dem legendären Anführer der „Solidarnosc“. Einst, 1989/90, zogen er und die beiden Zwillingsbrüder an einem Strang. Dann folgte Streit, und zwar mit dem Hinterbliebenen bis vor Gericht. Wobei die Frage, wer vermeintlich Mitschuld trägt am Absturz der Maschine, von allen Seiten ständig neu aufgeworfen wird.

„Noch ist Polen nicht verloren“, und gerade jetzt in der Corona-Krise gewinnt die große Frage, was uns in Europa herausfordert und zusammenhält, an Fahrt und Brisanz. Die Toten von Katyn und von Smolensk mahnen meiner Meinung nach uns alle. Gerade weil das Geschehene so kompliziert und politisch sogar unterminiert ist. Aufzuklären, um Wahrheit zu ringen, und das Problem nicht durch Liegenlassen zu erledigen, bleibt historisch die enorme Herausforderung.

Über Grenz- und Leidenserfahrungen der Völker offen reden: Stefan Querl (mittig) in einer Diskussion des Deutsch-Polnischen Jugendwerkes und seiner Nachbarorganisationen. Archivfoto: Michał Zak/DPJW.
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Über uns 
Stefan Querl, Jahrgang 1974, besuchte kurz vor Ende des Kalten Kriegs während einer Auschwitz-Exkursion nach Oświęcim und Kraków erstmals Polen. Seither engagiert er sich im Maximilian Kolbe Werk. Die kirchliche Hilfsorganisation begleitet polnische Überlebende von Ghettos, Konzentrationslagern, Gestapo-Gefängnissen - das ganz unabhängig von ihrer Herkunft, politischen Haltung, Religionszugehörigkeit oder Weltanschauung. Der Mitarbeiter der Erinnerungsstätte Villa ten Hompel in Münster ist Mitglied von Gegen Vergessen Für Demokratie.

3 Kommentare

  1. Adam

    10. April 2020 - 15:09
    Antworten

    Dziękuję, wichtiger Beitrag. Vieles, was aktuell in Polen passiert (wg. der Präsidentschaftswahlen im Mai zum Beispiel) ist ja ganz schön daneben…

    • magdalena sophie

      16. April 2020 - 21:23
      Antworten

      Es ist so wichtig, an dem Thema dranzubleiben, es immer wieder in die Diskussion zu rufen und an den historischen Kontext zu erinnern. Die politischen Verwerfungen nach dem Flugzeugabsturz von Smolensk sollten wir im Blick behalten, mit einem sehr kritischen Blick auf jegliche Verschwörungsideen. Danke für diesen wichtigen Artikel!

  2. Ela

    6. Mai 2020 - 13:45
    Antworten

    Das war eine große Tragödie, obwohl es eine Flugkatastrophe war

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