Demokratiegeschichten

Naziterror als Thema in der Grundschule?

Vorbemerkung. Schule soll einem Beschluss der Kultusministerkonferenz von 2009 ein Ort sein, an dem demokratische Werte erlebt, vorgelebt und gelernt werden. Dabei sei „das historische und erinnerungsorientierte Lernen in Auseinandersetzung mit menschen­feindlichen und antidemokratischen Vergangenheiten (…) zu fördern.“

Kann eine solche Forderung ebenso an die Grundschule gerichtet sein?  Diese Frage bejahe ich unter Hinweis auf drei historisch-politische Lernprojekte, die ich an der Johannes-Grundschule Rheine-Mesum (jetzt: Mesum/Elte) in den Jahren 2010, 2019  und 2020 durchführte. Themen waren „Zweiter Weltkrieg“ und  „Verfolgung und Widerstand im Nationalso­zialismus“. Dabei wurden regionale Aspekte einbezogen.  

Die Projekte waren jeweils im vierten Schuljahr teils fachbezogen im Religionsunterricht, teils fächerübergreifend angelegt.

Projekt „Vergesst uns nicht“ 2010

Lernorte: Stadtarchiv Rheine, Zeitzeugengespräch in Münster, Stolpersteine Rheine, Schule

Eine Schülerin bei der Gestaltung eines Gedenksteins; Foto: Franz Greiwe

Vergesst uns nicht – Diese Worte ritzten Juden aus Rheine mit ihren Fingernägeln in eine Mauer im Konzentrationslager Riga, kurz bevor sie ermordet wurden. Die Schülerinnen und Schüler der Klassen 4a und 4b fühlten sich dieser Bitte verpflichtet und gestalteten für jeden ermordeten Rheinenser jüdischer Herkunft einen Gedenkstein.[1] Diese praktische Ar­beit mit Bentheimer Sandstein-Brocken diente den Kindern ebenso als ein Ventil für ihre Be­troffenheit. Beim Besuch des Stadtarchivs Rheine hatte ihnen der leitende Stadtarchivar eine Liste mit den Namen von 58 Opfern der Schoa und eine Abbildung der Synagoge überreicht. Auch die Synagoge in Rheine fiel der Pogromnacht 1938 zum Opfer. Die Schülerinnen und Schüler zeigten sich von der Schönheit des kuppelförmigen Daches der Synagoge sehr berührt.

Ergriffen waren die Kinder auch von der Begegnung mit der Schoa- Überlebenden Marga Spiegel in Münster. Sie, ihr Ehemann und ihre Tochter Karin überlebten den mörderischen Rassenwahn der Nazis dadurch, dass mehrere münsterländische Bauern sie unter fal­schem Namen versteckten. Über diese Rettung hatte Marga Spiegel, die 2014 verstarb, in einem Buch be­richtetet.  [2]  Selbst erstellte Zeichnungen zu Szenen aus diesem Buch hatte ich den Schülerinnen und Schülern als Vorbereitung auf das Zeitzeugengespräch vorgelegt. In Partnerarbeit untersuchten die Kinder, welche Gefühle, Gedanken und Worte die darge­stellten Personen – Retter und Gerettete – entwickeln könnten. Anschließend fertigten die Viertklässler selbst Bilder und Texte zu den ausgewählten Szenen an.


Die so entstandenen Bilder mit überarbeiteten Texten wurden zu  einem Bilderbuch mit dem Titel „Gerettet“ verarbeitet.

Erkenntnisse der Kinder

Die Ängste der zu Beginn des Untertauchens fünfjährigen Tochter weckten im Gespräch mit Marga Spiegel das besondere Interesse der  Schülerinnen und Schüler. Den Kindern wurde deutlich, wie wenig selbstverständlich es ist, den eigenen Namen nennen zu dürfen, wie kostbar sorgende Eltern und ein sicheres Dach über dem Kopf sind, wie wertvoll es ist, als Kind ohne Verfolgung und Krieg aufwachsen zu dürfen. Aus diesen Erkenntnissen lei­teten die Viertklässler Rechte für Kinder ab.

Die bei der Landeszentrale für politische Bildung NRW eingereichte Projektmappe wurde 2010 beim Jugendwettbewerb „Unsere Werte – unsere Rechte“ mit dem 2. Preis ausge­zeichnet.

Projekt „Besuch von Kriegsgräbern“ (2019)

„Ein Krieg ist immer schrecklich. Bei einem Krieg gibt es nur Verlierer.“

Lernorte: Soldatenfriedhof Rheine-Mesum, Gefallenen-Ehrenmal Rheine – Mesum, Gräber gefallener Jugendlicher („Volkssturm“), Schule (u.a. Vortrag eines Heimatfor­schers)

Bei der Behandlung des Themas „Krieg und Frieden“ empfiehlt sich die Herstellung eines regionalen Bezuges, um Schülerinnen und Schülern die negativen Folgen eines Krieges nahezubringen.

Zuerst berichtete der Mesumer Heimatforscher Franz Greiwe den Kindern der Klasse 4a, wie der verbrecherische Krieg, der von Hitlerdeutschland ausging, auch in Rheine und Me­sum seine tod- und verderbenbringende Spuren hinterließ. Die Schülerinnen und Schüler begannen darauf, in der eigenen Familiengeschichte zu forschen. Dabei erfuhr bei­spielsweise die zehnjährige Lisbeth, dass ihr Urgroßvater aus seiner amerikanischen Kriegsgefangenenschaft einen Esslöffel mitgebracht habe. Ihre Mutter habe sich später daraus einen Armreif formen lassen.

Beim Besuch des Mahnmals für die  gefallenen Soldaten aus Mesum (Erster und Zweiter Weltkrieg)  entdeckten Schülerinnen und Schüler Namen von Verwandten. Nicht nur diesen widmeten sich die Viertklässler in einem stillen Gedenken, sondern auch fünf Gräbern von Jugendli­chen auf dem Alten Friedhof in Rheine-Mesum. Auch in Mesum hatte die verbrecherische Kriegsmaschinerie der Nazis Jugendliche in den „Volkssturm“ geschickt. „Das ist so wie bei Justus im Film ‚Der Krieg und ich'“ [3] erkannten viele Kinder, wohl wissend, dass die vier Jugendlichen ihren Einsatz durch die Nazis mit dem Leben bezahlen mussten.

Vor dem Gefallenen-Mahnmal stellten die Schülerinnen und Schüler selbstgefertigte Lich­ter auf.

Aus Berichten von Kindern zu dem Projekt:

Ein Krieg ist immer schrecklich. Bei einem Krieg gibt es nur Verlierer.“

Wenn wir ein Grab pflegen und dort beten, fühlen wir uns verbunden mit den Verstorbe­nen. Aber wie können wir und verbunden fühlen mit Menschen, die vor vielen Jahren durch Krieg sterben mussten?

Wir können uns auch heute noch vorstellen, wie schlimm damals der Krieg für die Kinder, Mütter und Soldaten war. Wir können mitfühlen und nachempfinden, dass der getötete Soldat noch gern gelebt hätte, dass er weinende Kinder hinterließ.“

Projekt:  Das Recht zu wissen, wie es war (2020)

„Steter Tropfen höhlt den Stein. Du bist ein solcher Tropfen.“

Zeitzeugengespräch mit Tamar Dreifuss

Tamar Dreifuss, 1938 im litauischen Vilnius geboren, ist Pädagogin, Zeitzeugin und Über­lebende des Holocausts. [4] Am 17. Februar 2020 besuchte sie die Viertklässler der Johan­nesschule Mesum/Elte. Das von ihr über ihre Rettung vor der Schoa verfasste Bilderbuch [5] richtet sich an Kinder der 3. und 4. Jahrgangsstufen. Diese haben, so der Leitgedanke der Zeitzeugin, das Recht zu wissen, wie es war. Mit ihrer langjährigen Erfahrung aus ihrer Lehrtätigkeit in der Jüdischen Gemeinde Köln vermochte Frau Dreifuss zudem die Schülerin­nen und Schüler altersgemäß anzusprechen und in ihren Vortrag einzubinden. Bedrücken­den Szenen des Vortrags, den sie mit Fotografien und Bildern aus ihrem Buch veran­schaulichte, setzte die Zeitzeugin entlastende Worte entgegen: „Ich bin ja noch da!“

Energisch mahnte sie die jungen Zuhörer, keinen Fremdenhass zu dulden. An jedes ein­zelne Kind gerichtet: „Steter Tropfen höhlt den Stein. Du bist ein solcher Tropfen.“

In der Nachbereitung dieser intensiven Begegnung entstand ein Wandbild, in welchem die Schülerinnen und Schüler darstellten, welche Art von Tropfen einen Stein (das Böse, der Hass, der Krieg) langsam, aber stetig zum Aushöhlen bringen können, beispielsweise respektvoll mitein­ander umgehen, nicht ausgrenzen, sich einsetzen.

Der im Laufe der Unterrichtsreihe angelegte Zeitstrahl (mit persönlichen Daten der Zeit­zeugin, einigen historischen und geografischen Angaben) konnte fertiggestellt werden. So wurden den Kindern Ereignisse aus der Biografie der Zeitzeugin, vor, während und nach der Schoa veranschaulicht.

Motivation der Schülerinnen und Schüler

Alle an den drei Lernprojekten beteiligten Schülerinnen und Schüler zeigten sich hochmoti­viert, wissbegierig und diszipliniert. Immer wieder ließen ihre Fragen und Schilderungen erkennen, dass die Schülerinnen und Schüler über ein zwar ungeordnetes, aber schon recht umfangreiches Vorwissen verfügten und sie ein hohes Bedürfnis nach Aufklärung und Richtigstellung hatten.

Während der jeweiligen Projektarbeit nahm ich erfreut und erstaunt wahr, dass sich in der Lehrer- Schüler- Beziehung eine zunehmende Nähe entwickelte. Die Kinder brachten außerdem ihre Fragen und neuen Erfahrungen in die eigenen Familien ein. Sie erkundigten sich bei El­tern und Großeltern nach Schicksalen der Angehörigen aus der Zeit des Naziterrors. Sie berichteten anschließend von ihnen bis dahin unbekannten Biografien aus ihren Familien.

In meiner Wahrnehmung gingen die Schülerinnen und Schüler aus den Projekten gestärkt hervor.

Herzlichen Dank für diesen Beitrag an Angela Prenger! Sie ist Lehrerin an der Johannes-Grundschule in Mesum/Elte und führt dort mit ihren Klassen Projekte zur Erinnerungskultur durch. Wer Fragen zu den Projekten hat und Kontakt aufnehmen möchte, kann unter dem Beitrag kommentieren 🙂

Anmerkungen


[1]   Die Gedenksteine wurden zuerst bei der Gedenkfeier zur Pogromnacht der Stadt Rheine 2010 ausgestellt.

[2]   Spiegel, Marga: Bauern als Retter: Wie eine jüdische Familie überlebte, Münster 2009  / Während der Projektphase kam die Verfilmung des Buches unter dem Titel „Unter Bauern“ in die Kinos. Viele am Projekt teilnehmende Kinder besuchten mit ihren Eltern eine Vorstellung.

[3]   Die achtteilige Serie „Der Krieg und ich“ erzählt, wie Kinder den Zweiten Weltkrieg erlebt haben. Mehrere Folgen wurden im Unterricht besprochen.                –       www.ardmediathek.de/daserste/shows/Y3JpZDovL3N3ci5kZS8yNDU3MjI0OA/der-krieg-und-ich

[4]   Siehe zu Tamar Dreifuss: www.nsberatung.de/index.php/de/tamar-dreifuss

[5]   Dreifuss, Tamar: Die wundersame Rettung der kleinen Tamar 1944, Köln 2013 (2)             info@ druckbetrieb.de

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