Demokratiegeschichten

Die „Stunde Null“ 1945? Jedenfalls zählt hier und jetzt jede Minute, die Welt zu verändern!

„Erinnerungs-Konkurrenzen“ rütteln auf und verstören uns als Nachgeborene. Gerade am heutigen 8. Mai, dem Gedenktag 75 Jahre nach Kriegsende. Doch sie zu besprechen und auch in den eigenen Familien kritisch zu hinterfragen, ist ein Weg zu mehr Gerechtigkeit. 

„Wie herrlich ist es, dass niemand eine Minute zu warten braucht, um damit zu beginnen, die Welt langsam zu verändern. Wie herrlich ist es, dass jeder, klein oder groß, direkt seinen Teil dazu beitragen kann, um Gerechtigkeit zu bringen und zu geben.“

Anne Frank hat das geschrieben, und zwar heimlich. Im Versteck. Ein gutes Jahr vor dem 8. Mai 1945, dem Kriegsende. Den Tag hat die später in aller Welt berühmt gewordene junge Tagebuchschreiberin selbst nicht mehr erlebt. Sie starb mit ihrer Schwester Margot unter erbärmlichen Umständen im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Vermutlich an Typhus.

Zusammenbruch und erzwungene Veränderungen

Wie bedenkenswert, wie wahr: Niemand braucht eine Minute zu warten, die Welt langsam zu verändern… Doch die Welt fast aller Deutschen, die nicht – wie Familie Frank – verfolgt worden waren, änderte sich rasant mit dem 8. Mai 1945. Die Welt brach in vielen Fällen im Grunde sogar zusammen und zerbarst wie der kollektive Traum von „Volksgemeinschaft“ und „Herrenrasse“, die der Nationalsozialismus mit Verführung, Lügen, mit Gewalt gegen alle die, die er für „minderwertig“ oder „Volksschädlinge“ hielt, lauthals propagiert hatte.

Das Wort einer „Stunde Null“ bürgerte sich fürs Kriegsende ein. Konkrete Veränderungen, auch den langsamen, späteren Weg von der Diktatur zur Demokratie, empfanden Etliche erst als aufgezwungen. Kein ruhmreicher „Endsieg“ nach diesem „totalen Krieg“, wie der schöne Schein der Diktatur ihn eigentlich den Volksgenossen vorhergesagt hatte. Vielmehr 1945 als eine Niederlage, und das in den zerbombten Städten. Nach Kämpfen bis zuletzt, Leichenbergen, Versehrten, Existenznöten der Überlebenden. Nicht alle Alliierten hielten, was sie noch als Anti-Hitler-Koalition versprochen hatten: Auf Verbrechen folgte Unrecht.

Ein komplexer Gedenktag

Der 8. Mai 1945 kommt in Geschichtsbüchern heute komplex daher und ist kritikwürdig. Es ist aus meiner Sicht dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge in Kassel enorm hoch anzurechnen, dass er genau zum 75. Jahrestag des Kriegsendes, in seiner trotz Corona-Krise pünktlich erstellten Zeitschrift mit dem symbolstarken Titel „Frieden“ erklärt, wie der Rechtsakt der Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai 1945 mit vielen Teil-Kapitulationen zeitlich und örtlich zuvor zusammenhing. Nur zwei Zeitungen übrigens, in Aachen und in Flensburg, berichteten am 8. Mai 1945 von den Ereignissen, die „Aachener Nachrichten“ als erstes freies Blatt. Die weitere deutsche Presse strotzte noch vor Propaganda. Sie war zensiert. Oder zerstört. Wobei die meisten Menschen ohnehin zumeist nur noch nackter Not gehorchen mussten und kaum mehr Zeitung lasen.

Mein Opa, Jahrgang 1903, hat bis zu seinem Tode im Jahre 1993 von einer „Katastrophe“ und dem „verlorenen Krieg“ gesprochen. Er hat auf die „Siegermächte“ geschimpft und um seine „gefallenen Kameraden“ getrauert. Das Gesehene und Erlebte hatte sich in seine Seele eingebrannt. Schon als Kind spürte ich das. Aber mit dem Ausdruck vom „Tage der Befreiung“, den 1985 Bundespräsident Richard von Weizsäcker herausstellte in seiner Gedenkrede zum 8. Mai, die inzwischen maßgeblichen Menschen als „Durchbruch“, als Klarstellung und Eingeständnis gilt, tat mein Opa sich zeitlebens ausgesprochen schwer.

Unsere Oma leugnete andererseits nie gegenüber uns, den Enkeln, dass vor dem 8. Mai 1945 offener Rassenhass und Antisemitismus im Reich allgegenwärtig gewesen waren. Weil sie etwas Russisch konnte und, solange es irgendwie doch anfangs wohl ging nach Kriegsende, zwischen Westfalen und Sachsen illegal pendelte, hatte sie auch früh geahnt, dass sich in der SBZ, in der Sowjetischen Besatzungszone, etwas Finsteres zusammenbraut. Der Kalte Krieg, die „verlorenen Ostgebiete“, das am Boden liegende, geteilte „Vaterland“, klafften nach dem 8. Mai wie offene Wunden und ließen wohl auch in meiner Familie viele Opfer der NS-Gewaltherrschaft nur in den Hintergrund treten.

Die „Stunde Null“: Neustart?

Die Bilder von der Befreiung Bergen-Belsens hatte sich meine Großeltern angeschaut, ja. Doch das Tagebuch der Anne Frank, das später entdeckt wurde und erschien, kam wie aus einer anderen Welt. Für das Leiden der Menschen in den besetzten Ländern entwickelten sie erst langsam Verständnis. Und dass die „Stunde Null“ vielleicht gar kein richtiger Neustart gewesen war, dass zum Beispiel der Wiederaufbau und das wirtschaftliche Wachsen im westlichen Nachkriegs-Deutschland nicht allein mit „Trümmerfrauen“ und eigener Hände Arbeit der Deutschen dort zu tun hatten, sind meine jetzigen Gedanken und Fragen an die (Familien-)Geschichte. Meine Großeltern hätten sie sicher empört zurückgewiesen. Ich habe sie aber auch nie recht danach gefragt. Schade, dass intensive Gespräche der Generationen ausblieben. Dass beredtes Schweigen herrschte, denn – siehe oben – vom Krieg haben sie durchaus erzählt.

Gerne würde ich mich bei meinen Großeltern noch nach der Gerechtigkeit erkundigen, die Anne Frank sich im April 1944 offensichtlich ersehnte. Mitnichten, der Zweite Weltkrieg war kein „gerechter Krieg“. Er war über weite Strecken ein großer Vernichtungs- und Eroberungsfeldzug, ein Gemetzel. Vor allem im besetzten Osten Europas, auf dem Balkan und in Russland, der zum Beispiel mit „Verbrecherischen Befehlen“ an die Truppen einher ging. Das, was wir inzwischen als den Holocaust bezeichnen, war ein massenhaftes Morden, systematisches Ausrotten oder Verhungernlassen hinter den Fronten. Ein brutaler Übergriff auf die Zivilbevölkerung, an dem sich Wehrmacht, Polizei, SS und auch nicht-bewaffnete Bedienstete des Reiches beteiligt hatten. Und zu dem viele Deutsche, die Verantwortung trugen, schwiegen.

Zwangsarbeiter-Einsatz im Zweiten Weltkrieg 1943 im westfälischen Münster: Nach einem der alliierten Angriffe werden unter Aufsicht städtischer Bediensteter lebensgefährliche Einsätze in den Trümmern angeordnet. Foto: Stadtarchiv Münster (Bestand Kriegschronik Franz Wiemers).

Konkurrierende Erinnerungen

Nur einige, viel zu wenige, leisteten Widerstand oder halfen Verfolgten im Stillen. Einige, viel zu wenige, Mörder sind nach dem 8. Mai 1945 zur Rechenschaft gezogen worden für ihre Taten. Die Gesellschaften in den ehemals besetzten Ländern taten (und tun sich noch bis heute) schwer mit denen aus ihren Reihen, die einst kollaboriert hatten. Und wenn aktuell die Zahl von 60 Millionen Kriegsopfern als gesichert angenommen werden darf, werden Ewiggestrige, Rechtsextreme und andere Relativierer nicht müde zu betonen, dass jeder 10. Tote davon doch „deutschen Blutes“ war. Wobei sie damit eben genau nicht die junge jüdische Deutsche Anne Frank und ihre Familie meinen.

Verschiedene „Erinnerungs-Konkurrenzen“ tun mir richtig weh, gerade heute am 8. Mai. Sie erzeugen in mir heftigen Widerspruch. Sie verstören, zumal klar ist, dass im Erinnern und Gedenken zwischen Schwarz und Weiß nur ein nebliges Grau über den Ereignissen der Kriegsjahre 1939 bis 1945 bleibt. Ein blinder Fleck mit vieldeutiger und sehr aufwühlender Auseinandersetzung angesichts der historischen Tatsache, dass zum Beispiel diese toten „Kameraden“ meines Opas „von Staats wegen“ in den Kampf geschickt worden waren und „im Felde blieben“. So weh allen Angehörigen das tut. „Süß und ehrenvoll ist, für das Vaterland zu sterben“, stand noch als ein Schriftzug und Zitat von Horaz im Gymnasium meiner Geschwister, beide geboren in den 1960er Jahren. Genauso fragwürdig, finde ich, wie der spätere Ruf von links, der pauschale Vorwurf: „Alle Soldaten gleich Mörder!“

Wie erinnern?

Aber wie an die Ermordeten erinnern? An die vom NS-Staat entrechteten, die absichtlich vernachlässigten KZ-Häftlinge oder Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Ihnen gebührt meiner Meinung nach schon deshalb eine bewusst andere Form von Würdigung und Anteilnahme zum 8. Mai. Alle Überlebenden von Terror und Verfolgung zeigen, dass es eine Befreiung war 1945. Relativiere nun ich etwas? Rechne ich auf? Lasst uns streiten!

Wohlgemerkt: Jeder Mensch hat einen Anspruch auf Würde, was immer auch posthum zu gelten hat, wie ich finde. Unterschiedliches Leid im Krieg oder Brüche in den Biographien der Beteiligten rückschauend zu vergleichen, darf nicht mit Gleichmacherei im Beurteilen einher gehen. Differenzierung ist ein Gebot: Das Handeln der NS-Täter (und Täterinnen) zu erklären, darf nicht bedeuten, es zu entschuldigen. Alle Opfer von Verfolgungsmaßnahmen oder von Kampfhandlungen mahnen uns, die Nachgeborenen der Damals-Nicht-Verfolgten in Deutschland, die Gedenken ‚in Grautönen‘ vielleicht erst lernen und neu ertragen lernen müssen – ohne dabei Scham-, Schuld- oder Verantwortungsgefühle zu unterdrücken. Wir sind nämlich (noch) keine „Erinnerungs-Weltmeister“! Möglicherweise verändert ja jede Minute des Debattierens und Reflektierens darüber die Welt. Um der Gerechtigkeit willen.

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Über uns 
Stefan Querl, Jahrgang 1974, besuchte kurz vor Ende des Kalten Kriegs während einer Auschwitz-Exkursion nach Oświęcim und Kraków erstmals Polen. Seither engagiert er sich im Maximilian Kolbe Werk. Die kirchliche Hilfsorganisation begleitet polnische Überlebende von Ghettos, Konzentrationslagern, Gestapo-Gefängnissen - das ganz unabhängig von ihrer Herkunft, politischen Haltung, Religionszugehörigkeit oder Weltanschauung. Der Mitarbeiter der Erinnerungsstätte Villa ten Hompel in Münster ist Mitglied von Gegen Vergessen Für Demokratie.

2 Kommentare

  1. Merve Schröder

    8. Mai 2020 - 11:45
    Antworten

    „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“
    „Die Jungen sind nicht verantwortlich für das, was damals geschah. Aber sie sind verantwortlich für das, was in der Geschichte daraus wird.“

    Richard von Weizsäcker in seiner Rede am 8. Mai 1985 vor dem Bundestag zum 40. Jahrestag der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht – heute aktueller denn je.

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