Demokratiegeschichten

Ich darf aussuchen. Drei Generationen Frauenwahlrecht in einer Familie

Meine Großmütter

 

Elise

Meine Großmutter Elise war 17 Jahre, als das Frauenwahlrecht 1918 eingeführt wurde. Zu dieser Zeit war sie Stubenmädchen bei einer Adelsfamilie auf einem hinterpommerschen Gut. Keiner weiß es genau, aber vermutlich hatte das Wahlrecht für sie keine besondere Bedeutung. Königin Luise war eines ihrer großen Vorbilder. Wie für viele Frauen zu der Zeit. Als meine Großmutter 1940 ihr drittes Kind zur Welt brachte, meine Mutter, bekam es den Namen Luise.

Parteien und Wahlen spielten auch später in der DDR in der Familie meiner Großmutter keine besondere Rolle. Mein Großvater bekannte sich eher zu den Bibelforschern. Sein Reich war nicht von dieser Welt. Von meiner Großmutter wird die Geschichte überliefert, sie habe einmal ihren Blutzucker-Urinteststreifen in die Wahlurne gesteckt. Sie war zu dem Zeitpunkt bereits bettlägerig. Doch die Wahlhelfer in der DDR brachten die Urne an jedes Bett – ob man wollte oder nicht. Die Wahlbeteiligung in der DDR lag immer bei 99 Prozent.

 

… und Elise

Meine andere Großmutter, die auch Elise hieß, wurde 1906 geboren. Auch bei ihr wissen wir nicht, ob und wen sie wählte. Fest steht, dass sie in einer bibeltreuen Gemeinde aufwuchs. Vermutlich orientierte sie sich an dem Bibelwort in den Römerbriefen Vers 13. Darin heißt es etwa, dass Gott der himmlische Herrscher ist und er auf der Erde einen irdischen Herrscher einsetzt. Und beiden solle jedermann Untertan sein.

Als meine Großmutter nach dem Ende des Krieges zwei Kinder allein großziehen musste, war es ihr wichtig, politisch nicht aufzufallen. Denn der Staat konnte die beruflichen Wege ihrer Kinder befördern oder verhindern. Kritische Äußerungen ihres Sohnes zur Politik der DDR machten ihr Angst. Vermutlich wäre eine Wahlverweigerung für sie schon zu viel Opposition gewesen. Also mutmaße ich, sie war eine Wählerin. Der Umstände wegen.

 

Meine Mutter

Meine Mutter Luise geht zur Wahl. Und im Gegensatz zu ihrer hinterpommerschen Mutter interessiert sie sich nicht für Königshäuser. Die DDR war bereits gegründet, als sie erstmals wählen durfte. Wählen gehen war für sie etwas, was man einfach tat, so sagt sie. Der normale DDR-Wähler nahm den Wahlzettel, faltete ihn und steckte ihn sofort in die Wahlurne. Damit stimmte er der gesamten Liste zu. Meine Mutter hingegen benutzte manchmal die Wahlkabine. Nicht immer, aber eben manchmal. In unserem brandenburgischen Dorf fiel so etwas auf. Und wie überall in der DDR wurden die Benutzer der Wahlkabine deutlich wahrgenommen. In einem jener Wahljahre war in der Stasiakte meiner Mutter vermerkt: „Gewählt“. Neben meiner Mutter benutzten noch ein paar ältere Herrschaften im Dorf die Kabine. Das Wahlgeheimnis war faktisch öffentlich. Das Wahlergebnis stand schon vorher fest.

Bis 1989 sprach man in meiner Familie nicht darüber was man wählt, sondern ob man überhaupt zur Wahl geht. (Mein Vater ging erstmals 1990 zur Wahl.) Noch heute erinnert sich meine Mutter gut an die ersten freien Wahlen nach dem Fall der Mauer 1989. „Ich konnte Mitentscheiden und meine Meinung sagen. Ich konnte wirklich politisch tätig sein. Das war für mich ein neues Gefühl.“ Als sie mir diese Sätze kürzlich am Telefon sagte, hörte ich auch 30 Jahre danach noch eine gewisse Ergriffenheit und Stolz in ihrer Stimme.

 

Ich

Im Juni 1981 nahm meine Mutter mich zum ersten Mal mit zur Wahl. Ich war aufgeregt, denn ich stellte mir die Wahl als ein großes Ereignis vor. Selbst in meinem Kindergarten hingen Aufrufe wählen zu gehen. Das Wahllokal lag im Warteraum der dörflichen Arztpraxis und war mit Blumen geschmückt. Es war eines der Jahre, in dem meine Mutter die Wahlkabine nicht benutze. Ohne auf den Wahlzettel zu schauen, faltete sie ihn, steckte ihn in die Urne und wandte sich zum Gehen. Noch einige Jahre später erzählte meine Mutter die Geschichte, wie ich bitter enttäuscht im Wahllokal stand und mich beschwerte, sie habe doch noch gar nichts „ausgesucht“.

 

Ich darf aussuchen

1994 wählte ich zum ersten Mal selbst. Für mich war zu diesem Zeitpunkt entscheidend, dass ich überhaupt als Erste in meiner Klasse wählen durfte. Ich fand mich cool und hatte das Gefühl, in einer neuen Liga mitzuspielen. Als Wählerin Teil eines großen demokratischen Prozesses zu sein, war mir nicht bewusst. Mir war es wichtig auszusuchen. Und wie ich aussuchte. Meine Freundin und ich durchforsteten meine Briefwahlunterlagen und amüsierten uns über Parteinamen wie „Graue Panter“, „Autofahrer- und Bürgerinteressenpartei Deutschlands“ oder „Statt Partei“. Am Ende wählte ich vermutlich die Partei mit dem skurrilsten Namen.

Seither sind für mich einige Wahlen ins Land gegangen. Heute wird in meiner Familie nicht mehr darüber geredet, ob man wählt, sondern wen man wählt. Wählen ist für uns eine Selbstverständlichkeit. Auch dass ich als Frau wählen darf, steht für mich außer Frage. Diese familiäre Selbstverständlichkeit wurde für mich erstmals erschüttert als mein Neffe vor einer Bundestagswahl sagte, er wisse noch nicht, ob er wählen gehe. Im selben Augenblick mutierte ich gefühlt zu einer dieser Löwinnen, die ihre Beute kreuz und quer durch die Steppe jagt. Nur, ich wollte meinen Neffen nicht fressen, sondern bekehren. Und so redete ich mit geballten Uraltweisheiten auf den armen Jungen ein, wie wichtig seine Stimme sei, dass Wählen seine Bürgerpflicht ist, dass er mitbestimmen müsse … Ich wette, es waren nicht meine Argumentationstiraden, die ihn letztendlich doch zur Wahl gehen ließen.

 

Wählen – Meine fraglose Selbstverständlichkeit

Warum nur ist das Wählen für mich eine so fraglose Selbstverständlichkeit? Nein, meine Eltern haben uns Kindern nie eingeimpft, wählen sei eine Bürgerpflicht. Blicke ich zurück, bleibt meine Erinnerung immer und immer wieder im Mai 1989 hängen. Die letzten Kommunalwahlen der DDR. Die erste Wahl, die ich als Dreizehnjährige selbst mit besonderem politischem Interesse verfolgte. Schon im Vorfeld der Wahl wurde im Kollegen- und Freundeskreis meiner Eltern dazu aufgerufen, die Auszählung der Stimmen vor Ort zu beobachten.

Soetwas hatte es zuvor noch nicht gegeben. Die Beobachter wurden oftmals gehindert. Obwohl laut Wahlgesetzt der DDR die Stimmauszählung öffentlich war. In nahezu allen Wahlkreisen der DDR wurden deutlich mehr Neinstimmen registriert als offiziell bekanntgegeben. Den gesamten Tag verfolgten wir in unserer Küche über westliche Radiosender den Wahlverlauf in der DDR. Die Ostmedien schwiegen. Schon bald nach der Wahl konnte den Kommunen Wahlfälschung vorgeworfen werden. Wie mein Staat über Jahre seine Bevölkerung betrogen hatte, wurde mir in jenen Tagen erstmals bewusst.

Einige unerschrockene Menschen hatten sich zusammengeschlossen und brachten die Wahlfälschung offen zur Rede. Mich beeindruckte in jener Zeit die Willenskraft und Stärke dieser Frauen und Männer. Sie forderten die Einhaltung des Wahlgesetzes ein und stellten einen ganzen Staat zur Rede. Nicht nur in Berlin taten sie das. Sondern auch an vielen kleinen Orten in der DDR. Auch bei uns. Die Staatssicherheit bemühte sich, die immer lauter werdenden Stimmen zum Schweigen zu bringen. Jene Frauen und Männer riskierten damals Verhaftungen sowie Repressionen gegen sich und ihre Familien. Als der Sohn von Freunden verhaftet wurde, sprach es sich in Windeseile herum. Die Unsicherheit, die sich ausbreitetet, spüre ich noch heute. Erst Jahre später begriff ich: Die Aufdeckung der Wahlfälschung im Frühling 1989 war der aktive Auftakt vom Ende der DDR.

 

 

P.S.: Meine Großmutter Elise aus Hinterpommern und ich haben uns nur drei Jahre kennengelernt. Dann starb sie. Wir hätten uns viel zu erzählen gehabt; zum Beispiel über Königshäuser. Vielmehr hätte mich aber interessiert, ob ihr Urinteststreifen damals aus Protest oder aus Verwirrung in der Wahlurne landete. Doch das bleibt ihr Geheimnis.

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