Demokratiegeschichten

50 Jahre Kanzlerschaft: Interview mit der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung

Heute vor 50 Jahren, am 21. Oktober 1969, begann Willy Brandts Kanzlerschaft. Seit mittlerweile 25 Jahren hält die Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung die Erinnerung an den Sozialdemokraten wach. Wir haben mit Dr. Wolfram Hoppenstedt, dem Geschäftsführer der Stiftung, ein Interview über die Erinnerung an den Kanzler und die Arbeit der Stiftung geführt.

Herr Hoppenstedt, im Oktober jährt sich die Wahl Willy Brandts zum Bundeskanzler zum 50. Mal. Wie erinnert die Stiftung an diesen Jahrestag?

Der 50. Jahrestag der Wahl Willy Brandts zum Bundeskanzler ist das wichtigste Jubiläum seit dem 100. Geburtstag des Politikers. Das Ereignis bildet den Auftakt für ein umfassendes Veranstaltungsprogramm, Ausstellungen und einer Reihe wissenschaftlicher Konferenzen. Am 22. Oktober wird im Paul-Löbe-Haus des Deutschen Bundestages erstmals die große Willy Brandt-Wanderausstellung präsentiert, die die nächsten Jahre durch die deutschsprachigen Lande ziehen soll. Nächstes Jahr wird zusätzliche eine internationale Ausstellung verfügbar – wir gehen mit Willy Brandt sozusagen „in die ganze Welt“. 

Was ist Willy Brandts größter Erfolg? Von welchen Reformen/Erlassen profitieren wir noch heute?

Mit seiner neuen Ost- und Deutschlandpolitik hat Willy Brandt auf lange Sicht eine deutsche Wiedervereinigung überhaupt erst möglich gemacht. Grundlage war das Vertrauen, das er wenige Jahrzehnte nach dem Hitler-Krieg wieder in Deutschland hergestellt hat – im Osten wie im Westen. Von dem gestärkten Sozialstaat, der zu Beginn der 1970er auf den Weg gebracht wurde, etwa von den enorm verbesserten Bildungschancen, profitieren die Bundesbürger noch heute, auch wenn „Bildungsgerechtigkeit“ immer noch eine Herausforderung bleibt. Die demokratische Mitbestimmung wurde in viele Lebens- und Alltagsbereiche ausgeweitet – in die Behörden und Betriebe, und auch in die Schulen und Universitäten. Das wirkt bis heute nach.

Was war die wahrscheinlich schwerste Entscheidung seiner Kanzlerschaft?

Die schwerste Entscheidung war sicher die zu einem Rücktritt, im Mai 1974 – als er die politische Verantwortung für die „Affäre Guillaume“ übernahm.  

Wäre Willy Brandt heute Kanzler: Wie würde er mit den Herausforderungen unserer Zeit umgehen (Wählerverluste, Klimapolitik, Europa…)?

Das ist eine sehr umfassende Frage. Wir fragen uns als Stiftung, gerade jetzt zum 50. Kanzlerjubiläum – was hat Willy Brandt so stark gemacht? Wie konnte er diese unglaublichen Wahlerfolge erreichen?

Und hier würde ich die Antwort auf die Frage suchen: Die Wähler, viele und besonders auch junge Menschen in Deutschland, empfanden Willy Brandt als glaubhaft und authentisch. Er stand für das, was er sagte und tat. Europa war für ihn ein „Heiligtum“. Er würde darum kämpfen, dass die Bürger Europas weiter zur Einigungsidee stehen und mit ihr gehen.

Bei den großen Herausforderungen wie dem Klimawandel würde er auf die Experten hören, aber hinsichtlich der Maßnahmen, die Deutschland ergreifen kann, realistisch bleiben und einen breiten Konsens dafür suchen.

Für zwei Momente ist Willy Brandt besonders bekannt: Für seinen Kniefall in Warschau und für seinen Ausspruch „Wir wollen mehr Demokratie wagen.“ Wurde diese Öffnung nach innen und außen tatsächlich umgesetzt?

Deutschland hat in der Zeit nach dem Kniefall die Beziehungen zu seinen Nachbarn normalisiert. Und dennoch konnte der Kniefall als symbolische Geste nur ein Anfang sein, nur für den Beginn einer Aussöhnung mit unseren Nachbarn stehen. Dazu braucht es viel Zeit, vermutlich bis zu zwei Generationen.

Ganz klar umgesetzt wurde der Anspruch „Wir wollen mehr Demokratie wagen.“ Dieses Versprechen wurde zum Leitmotiv für die inneren Reformen der sozial-liberalen Koalition. Viele Bürgerinnen und Bürger begannen in der Folgezeit, sich in der Politik und für die Gesellschaft zu engagieren. Besonders viele junge Menschen machten sich die Losung „Mehr Demokratie wagen” zu eigen. Und als ganz konkrete Maßnahme wurde zum Beispiel das Wahlalter auf 18 Jahre herabgesetzt.

Cover des Jubiläumsprogramms; Foto: J. S. Darchinger/FES

Welche Aufgaben erfüllt die Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung?

Wir haben als überparteiliche Bundesstiftung die Aufgabe, an das Leben und politische Wirken Willy Brandts zu erinnern – an seinen Einsatz für Frieden, Freiheit, Demokratie, die deutsche Einheit – und für die Versöhnung und Verständigung unter den Völkern. Dazu gehört auch sein Einsatz für die Verbesserung der Lebensverhältnisse in den ärmsten Ländern dieser Welt. Immer wichtiger ist es in unserer Arbeit geworden hervorzuheben, welche Relevanz die politischen Ideen von Willy Brandt bis heute haben. 

Am 25. Oktober feiert die Stiftung ihr 25-jähriges Jubiläum. Wie hat sich die Arbeit der Stiftung seit ihrer Gründung 1994 verändert?

Zunächst haben wir heute eine viel größere Stiftung, seit 2007 mit dem Willy-Brandt-Haus Lübeck als zweiten Standort. Lange waren wir acht Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Inzwischen sind es über 40. Die Schlagzahl der Veranstaltungen hat sich wesentlich erhöht.

Zugleich haben wir heute Mittel und Wege, z. B. über das Internet, unsere Arbeit einer viel größeren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Stiftung hat sich, das darf man mit aller Bescheidenheit sagen, einen großartigen Ruf aufgebaut, so auch in der Geschichtswissenschaft. Ein namhafter Redner zieht den anderen nach. Das ist sehr erfreulich.

Wie bringt man Jugendlichen die Person Willy Brandts näher? Und warum ist das heute noch wichtig?

Da gibt es gute Anknüpfungspunkte. Viele junge Menschen, auch mit Migrationshintergrund, können sich in Willy Brandt wiederfinden. Er hatte eine alleinerziehende Mutter. Dazu war auch er ein Geflüchteter und musste Aufnahme in einem anderen Land finden. Vielen Jugendlichen imponiert sein Mut, gegen Hitler und jedwedes Unrecht aufzustehen und Widerstand zu leisten. Und natürlich beeindruckt seine berühmteste Geste: der Kniefall von Warschau.

Welche Zwischenbilanz würden Sie nach 25 Jahren für die Arbeit der Bundeskanzler-Willy-Brand-Stiftung ziehen? Und was wünschen Sie sich für die nächsten 25 Jahre?

Die Stiftung hat sich zu einer im Inland wie im Ausland anerkannten Institution der historischen Forschung und historisch-politischen Bildung entwickelt. Ich bin froh und stolz, vom ersten Tag an als Geschäftsführer dabei sein zu dürfen.

Was die Zukunft betrifft: Durch viele Veranstaltungen im Ausland ist mir bewusst geworden, welch einen Schatz Deutschland in Willy Brandt hat. Sein Name ist bis heute in den entferntesten Regionen unserer Erde unvergessen und wird positiv mit unserem Land in Verbindung gebracht.

Insofern ist es genau der richtige Weg, dass wir mit der internationalen Ausstellung ab 2020 Willy Brandt weltweit präsentieren. Darüber hinaus meine ich, dass wir, angesichts der enormen globalen Herausforderungen wie Klimawandel und Migration, unbedingt Willy Brandts „One World View“ und seine Forderung nach einer „Weltinnenpolitik“ in das Zentrum unserer Vermittlung stellen sollten. Dabei gilt immer sein berühmter Satz:

„Frieden ist nicht alles. Aber ohne den Frieden ist alles nichts“. 

Vielen Dank für das Interview!

Mehr Informationen zu Willy Brandt und der Arbeit der Bundeskanzler-Willy-Brand-Stiftung sind hier zu finden:

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Über uns 
Annalena B. arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. als Projektkoordinatorin im Bereich Demokratiegeschichte.

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