Demokratiegeschichten

Feuerwehr und Weltgeschichte. Die DDR im Frühjahr 1989

Der 30. April 1989 war ein Sonntag, der Frühling hatte Einzug gehalten und überall in der Deutschen Demokratischen Republik fanden Volksfeste statt. Höhepunkt war zumeist ein Fackelzug der Bewohner durch ihre Städte und Gemeinden, Anlass der bevorstehende „Kampf- und Feiertag der Arbeiterklasse“ am 1. Mai. So war es offiziell gewünscht, und so geschah es – auch in dem kleinen märkischen Dorf Großwudicke im Kreis Rathenow.

Doch es sollte sich herausstellen, dass die Dinge hier einen Verlauf nahmen, wie er ganz und gar nicht vorgesehen war. Als der dortige Fackelzug gegen 19:30 Uhr begann, schien die Welt noch in Ordnung. Die Dorfbevölkerung hatte sich an der örtlichen Bushaltestelle versammelt und zog eine halbe Stunde lang im Fackelschein durch die Straßen, hin zum Sportplatz der Gemeinde. Abgesichert wurde das Geschehen von Angehörigen der Freiwilligen Feuerwehr, zumeist Jugendlichen, und sie sollten sich als Problem für die anwesende Staatsmacht erweisen und zugleich Weltgeschichte vorwegnehmen. Denn unter dem Einfluss von reichlich Alkohol entschieden sich die Feuerwehrleute, ihrem offensichtlich angestauten Frust über die örtlichen Verhältnisse Luft zu machen.

Singen gegen das System

Wie im gesamten Land, so schien auch in Großwudicke die Zeit still zu stehen, nichts ging mehr voran. Insbesondere das Fehlen eines Jugendklubs wurde seit Jahren bemängelt, doch auch dahingehend passierte – nichts. An jenem Abend nun brach sich die Ernüchterung über die wachsende Zukunftslosigkeit Bahn. Was zunächst mit „ironischen Auslassungen“ gegenüber dem Bürgermeister begann, erlangte alsbald grundsätzlichen Charakter. Kurz vor Mitternacht erreichte die Stimmung ihren Höhepunkt.

Die Staatssicherheit sollte später in ihrem Bericht festhalten, dass der Abend in „sogenannten Stimmungsliedern“ endete, die von „negativ-feindlichem Inhalt gegen die DDR geprägt gewesen seien. Zur Melodie von „Adelheit, Adelheit, schenk mir einen Gartenzwerg“ sangen die Brandbekämpfer laut und unmissverständlich im öffentlichen Raum:

„40 Meter im Quadrat, Minenfelder, Stacheldraht,
jetzt wisst Ihr, wo ich wohne, ich wohne in der Zone.“

Dass allein stellte aus Sicht der Ordnungshüter eine Unverschämtheit dar, thematisierte es doch die Abriegelung des Landes und den tödlichen Charakter der DDR-Grenzen zur benachbarten Bundesrepublik. Aber es sollte noch schlimmer kommen. Denn die Sänger blieben nicht bei einer Zustandsbeschreibung, sie wagten sogar einen musikalischen Ausblick:

„Deutschland wird vereinigt sein,
jetzt reißen wir die Mauer ein.“

Genau eine Woche vor jener Kommunalwahl vom 7. Mai 1989, die zumeist als Ausgangspunkt der revolutionären Bewegung von 1989/90 angesehen wird, wagte die Feuerwehr von Großwudicke eine Prognose, über die zu diesem Zeitpunkt die meisten wohl nur müde gelächelt hätten. Denn kaum jemand konnte sich zu diesem Zeitpunkt vorstellen, dass sich Grundsätzliches ändern würde im Staate der Arbeiter und Bauern.

Kritische Stimmen werden laut

Allerdings herrschte keineswegs Friedhofsstille. Überall im Land waren längst kritische Stimmen zu vernehmen, die zunächst wenig systembedrohend erschienen, letztlich jedoch eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg der Revolution darstellten. So hatten beispielsweise schon 1988 die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Volkseigenen Gutes Blankenhain schriftlich eine Stellungnahme zu der Frage abgegeben, wie sie denn ihre Zukunftsaussichten einschätzen würden. Die Bewertung fiel eindeutig aus und erforderte zu diesem Zeitpunkt einigen Mut: das Gut, vor nicht allzu langer Zeit noch Musterbetrieb, würde „in den kommenden Jahren keine Existenzgrundlage mehr“ haben.

Resignation hatte sich längst breit gemacht, in der ganzen DDR und sie reichte bis hinein in die Reihen der Staatssicherheit. Und so schlugen die für Großwudicke zuständigen Geheimdienstler zwar einerseits Aussprachen mit den Beteiligten des Chorgesanges vor, nicht jedoch ernsthafte Strafen. Im Gegenteil, eine Maßnahme hielten sie für wichtiger: die Errichtung eines Jugendklubs.

Großwudicke zeigt eines: Unsere Bilder von dem, was 1989/90 geschah, sind sehr eindimensional, viele Geschichten noch nicht erzählt. Das gilt es 30 Jahre nach den historischen Ereignissen unbedingt zu ändern.

Jens Schöne

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2 Kommentare

  1. Kerstin

    18. Oktober 2019 - 9:57
    Antworten

    Danke für diesen Beitrag. Für mich als Wessie ist das total interessant, einen Einblick ins Innenleben der damaligen DDR zu bekommen. Es sind oft die kleinen Geschichten, die die Stimmung und Atmosphäre deutlich machen und die bei mir Respekt auslösen für den Mut der Menschen damals.
    Den brauchen wir nach wie vor in unserer Gesellschaft.

  2. WillyWhisp

    24. März 2020 - 18:39
    Antworten

    Meine Heimat, meine Kameraden, mein Dorf !
    Lokalpatriot Geboren 1980

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