Demokratiegeschichten

Rudolf Virchow: Politik als Medizin im Großen

Pathologe, Sozialhygieniker, Anthropologe, Prähistoriker, Liberaler und Demokrat… Was ist Rudolf Virchow eigentlich nicht gewesen? In 80 Lebensjahren forschte und engagierte er sich wie kaum ein anderer. Geboren wurde Rudolf Virchow 1821 in Schivelbein/Hinterpommern. Heute, am 13. Oktober, wäre sein 198. Geburtstag gewesen. Hier ein paar Stationen aus seinem Leben:

Reise nach Oberschlesien und Märzrevolution in Berlin

Allein Rudolf Virchows Verdienste als Mediziner wären ausreichend, um ihn für immer in den Geschichtsbüchern zu verewigen. Bereits im Alter von 24 Jahren gibt er Privatvorlesungen und erhält die Stelle des Prosektors an der Charité in Berlin. In dieser Zeit beschreibt er Weißes Blut bei Blutkrebs, dem er 1847 den Namen Leukämie gab. Auch die Bezeichnungen Embolie und Thrombose gehen auf Virchow zurück, ihm zu Ehren findet der Welt-Thrombose-Tag am 13. Oktober statt.

1848 führt ein Schlüsselerlebnis dazu, dass Virchow fortan naturwissenschaftliche Erkenntnisse mit gesellschaftlichen Beobachtungen verbindet. Die preußische Regierung schickt ihn nach Oberschlesien, um den Ausbruch einer Fleckfieber-Epidemie zu erforschen. Bald erkennt der Arzt, dass vor allem Hunger, Armut und mangelnde Hygiene an den Leiden der Bevölkerung Schuld sind. Die Verantwortung dafür sieht er bei Staat und Kirche. Und sein Rezept? Politische und soziale Reformen – Einführung der Demokratie, Aufbau eines Bildungssystem:

„Die Medizin ist eine soziale Wissenschaft, und die Politik ist weiter nichts als Medizin im Großen.“

Im Frühjahr 1848 kehrt er nach Berlin zurück. Sein Abschlussbericht ruft – wenig überraschend – bei der Regierung keine Begeisterung hervor. Und kaum wiedergekehrt, bringt Virchow die preußische Führung völlig gegen sich auf. Während der Märzrevolution beteiligt er sich am Barrikadenbau in der Berliner Innenstadt nahe der Friedrichstraße.

Nach Würzburg und zurück

Nach dem Scheitern der Revolution 1849 ist Virchows Stellung an der Universität nicht mehr haltbar. Für ein paar Jahre unterrichtet er an der Universität in Würzburg. Zuvor muss er allerdings versichern, sich von radikalen politischen Aktivitäten fernzuhalten.

Tatsächlich scheint ihn seine Arbeit im neu gegründeten pathologischen Institut auszulasten. Die sieben Jahre in Würzburg gehören aus medizinischer Sicht zu Virchows bedeutendster Zeit. Einen Großteil seiner Schriften verfasst er hier, u. a. sein berühmtes Buch „Die Cellularpathologie“.

1856 erfolgt dann der Rückruf nach Berlin. Für Virchow wird es zu einem Triumph. Nicht nur erhält er seine alte Stelle als Prosektor an der Charité wieder. Außerdem richtet die Berliner Universität eigens für ihn ein neues Institutsgebäude ein. Aus ganz Europa kommen nun Studenten nach Berlin, um dort an Virchows Vorlesungen und Demonstrationen teilzuhaben.

Foto des Pathologischen Museums der Charité in Berlin um 1900. Virchow eröffnete das Museum 1899.

Virchows Engagement als Abgeordneter

In Berlin widmet sich Virchow nun wieder dem, was er in Würzburg zurückgestellt hatte: der Politik. 1859 lässt er sich erstmals ins Berliner Stadtparlament wählen, dem er über 40 Jahre angehört. Von einer seiner wichtigsten Aufgaben profitieren die Berliner*innen übrigens noch heute. In den 1870er-Jahren setzt Virchow durch, dass die rapide wachsende Stadt eine Kanalisation erhält.

Bald schon engagiert sich Virchow auch national in der Politik. Übrigens immer ehrenamtlich. 1961 ist er Mitbegründer der Deutschen Fortschrittspartei. Die Mitglieder dieser liberalen Partei arbeiten hauptsächlich in besser verdienenden und studierten Berufen, z. B. als höhere Verwaltungsbeamte, Geschäftsleute und Akademiker. Für die Fortschrittspartei zieht Virchow in den preußischen Landtag.

Dort trifft er schon bald auf seinen größten politischen Widersacher, Otto von Bismarck. Dieser wurde gerade zum preußischen Ministerpräsidenten berufen, um im Verfassungskonflikt zwischen dem preußischen König Wilhelm I. und dem Parlament zu vermitteln. Geschickt nutzt Bismarck eine „Lücke“ in der Verfassung, um den Konflikt in seinem Sinne zu lösen: Da eine Lücke in der Verfassung bestehe und die Exekutive die tragende Kraft sei, falle dieser – also dem König – im Zweifel die Entscheidungsgewalt bei.

Von dieser Machtbeschneidung des Parlaments hält Virchow natürlich wenig. Genauso wenig kann er mit Bismarcks Machtpolitik – „Blut und Eisen“ – anfangen. Er sieht die Stärke und Expansion nach außen vor allem als Weg, um von den Problemen im Inneren abzulenken. Die preußischen Kriege von 1864, 1866 und 1870, die später als „Einigungskriege“ bekannt werden, geben ihm Recht.

Immer wieder rasseln der konservative Bismarck und der liberale Virchow aneinander. Letzterer greift den Minister so scharf an, dass dieser ihn 1865 tatsächlich zum Duell fordert. Was Virchow ablehnt. Nicht nur ist das Duellieren offiziell verboten, sondern, so Virchow, es sei keine zeitgemäße Art, um Probleme zu klären.

Zusammenspiel von Naturwissenschaften und Politik

Einrichtung des norddeutschen Bundes, Rechte der Exekutive, Budgetausstellung durch das Parlament, Sozialistengesetze – in fast allem widerspricht Virchow Bismarck. Nur in einer Sache sind sie sich einig: Beide unterstützen den „Kulturkampf“, dessen Namen Virchow prägt.

Dabei handelte es sich um einen Konflikt zwischen dem preußischen Staat und der katholischen Kirche. Der Staat sah eine höhere Trennung von Trennung und Kirche vor, was sich beispielsweise in der Einführung der Zivilehe zeigte. Insgesamt sollte der Einfluss des Religiösen in Politik und Öffentlichkeit eingedämmt werden, die Wissenschaft mehr Einfluss erhalten. Als Mann der Wissenschaft plädiert Virchow seit Jahren für eine Bildung und Politik, die sich auf Evidentes, also Nachweisbares, stützt. Und letztlich profitieren auch die Liberalen davon, wenn der Einfluss der katholischen Wähler und Politiker zurück geht.

Vielleicht ist es seine Einstellung im Kulturkampf, in der man Virchow am ehesten als Mann seiner Zeit wahrnimmt. Denn in vielen anderen Dingen war er seinen Zeitgenossen voraus. Fremdenhass, Antisemitismus, Rassenlehre? Sind ihm fremd und er argumentiert sachlich gegen diese.

„Ja, meine Herren, wohin soll denn das führen, wenn wir plötzlich eine Art von ethnologischer Heraldik treiben, um zu untersuchen, wo jeder einzelne sein Blut hergenommen hat?“

Eine von ihm angeregte anthropologische Studie an Schulkindern erweist eindeutig, dass die Deutschen eben kein Land der blauäugigen Blonden, sondern stark durchmischt sind. Noch Jahrzehnte später ist Virchow den Nationalsozialisten deswegen verhasst.

Die Studie ist nur ein Beispiel dafür, wie Virchow politische Entscheidungen versteht und umzusetzen versucht. Nämlich als Sachfragen, die unabhängig von einer Parteizugehörigkeit durch Expertenwissen zu beantworten sind. Durch die Naturwissenschaften und Expertise, so seine Überzeugung, wird der Fortschritt vorangetrieben. Und dadurch wird letztlich auch die Gesellschaft immer humaner werden.

Resümee

Doch dieses Verständnis trägt ein Problem in sich: Denn wenn Entscheidungen nur wissenschaftlich legitimiert getroffen werden, wer ist dann noch zur Entscheidungsfällung berechtigt? Wohl auch aus diesem Grund tritt Virchow für ein besseres Bildungssystem ein. Dass er der damals als ungebildeten geltenden Arbeiterklasse keine Entscheidungsfindung zutraut und daher das aus heutiger Sicht undemokratische Dreiklassenwahrrecht verteidigt, ist die Kehrseite seiner Liebe zur Naturwissenschaft. Auch seine Praxis, Schädel zu vermessen – teilweise geraubte Knochen aus deutschen Kolonialgebieten – und daraus Schlussfolgerungen zu Rassen zu treffen, ist aus heutiger Sicht problematisch.

Rudolf Virchow stirbt im Alter von 80 Jahren in Berlin. Fast 60 Jahre war er als Arzt, über 40 Jahre als Politiker aktiv. Seine Verdienste in den unterschiedlichsten Disziplinen sind kaum messbar.

Grabstätte Rudolf Virchow auf dem Alter St.-Matthäus-Kirchhof Berlin, Berlin; Foto: Marbot, CC BY-SA 4.0)

Was ihn als Demokraten groß macht: Dass er aufzeigte, wie (politischer) Fortschritt den Menschen zugute kommen kann. Dass er seine Gegner scharf, aber nicht unfair oder gar mit Gewalt angriff. Und dass er Argumente, wenn auch wissenschaftlich basiert, stets mit Leidenschaft vortrug.

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Über uns 
Annalena B. arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. als Projektkoordinatorin im Bereich Demokratiegeschichte.

1 Kommentar

  1. Georg Zenker

    21. November 2021 - 22:14
    Antworten

    Ein sehr gut recherchierte Artikel über Rudolf Virchow. leider ist er den meisten Menschen insbesondere auch mit seinem gesellschaftlichen und politischen Engagement noch viel zu wenig bekannt.

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