Demokratiegeschichten

Pazifismus in schwarz auf weiß – Die Verfassung des Staates Japan

Das Japanische Kaiserreich lag am Ende des Pazifikkrieges im August 1945 geschlagen und moralisch korrumpiert am Boden. Der enorme Einflussbereich, den die kaiserlichen Truppen in Ostasien brutal erobert hatten, war massiv zusammengeschrumpft. Viele Städte der Inselnation waren durch Luftangriffe der Alliierten zerstört. Nicht zuletzt hatten zwei Atombomben die Städte Hiroshima und Nagasaki dem Erdboden gleich gemacht.

Insgesamt hatte der Pazifikkrieg seit 1937 zwei Millionen Japaner:innen das Leben gekostet, davon 700.000 Zivilist:innen. Demgegenüber stehen 34 Millionen Kriegsopfer anderer asiatischer Länder, die den japanischen Aggressionen zum Opfer gefallen waren. Deshalb blieb Kaiser Hirohito, dem japanischen Tenno, angesichts dieser desaströsen Lage keine andere Wahl als die bedingungslose Kapitulation. Wenig Länder hatten einen Neuanfang bitterer nötig als Japan in diesem Moment.

Von Onkel Sams Gnaden?

US-General Douglas MacArthur mit Kaiser Hirohito in der US-Botschaft in Tokio im September 1945. Quelle: Gaetano Faillace, gemeinfrei

Nach dem Ende des kaiserlichen Imperialismus besetzten die USA, seit 1941 Hauptkontrahent im Pazifikkrieg, das Land der aufgehenden Sonne. Nun wollten sie die japanische Gesellschaft grundsätzlich umkrempeln und dem Militarismus ein für alle Mal ein Ende bereiten. Eine neue Verfassung stand dabei ganz oben auf ihrer Agenda. Doch der erste konservative Entwurf einer japanischen Kommission, der sich sehr an der bisherigen Meiji-Verfassung orientierte, ging den USA als Neustart nicht weit genug.

Die Besatzungsmacht legte daraufhin in kürzester Zeit einen eigenen Entwurf vor (MacArthur-Entwurf), von dem ausgehend die verfassungsgebende Kommission dann schließlich das finale Dokument erarbeitete. Bis heute dient das manchen, gerade aus dem konservativen Spektrum, als Argument gegen die Verfassung. So behaupten sie, das Dokument sei schlichtweg von außen aufgezwungen und hätte mit japanischen Werten und Traditionen nichts zu tun.

Am 3. November 1946 verabschiedeten schließlich das erste nach dem Zweiten Weltkrieg gewählte Unterhaus – erstmals hatten auch Frauen ihre Stimmen abgegeben –, das Herrenhaus und Kaiser Hirohito die Verfassung. Zugegebenermaßen machten die USA keinen Hehl daraus, wie diese Wahl ausfallen sollte. Die „Friedensverfassung“ trat schließlich am 3. Mai 1947 in Kraft.

Menschliche Gesetzgebung

Der Souverän ist von nun an nicht mehr der Kaiser oder das Militär, sondern das japanische Volk. Es bekennt sich zu den Prinzipien des Friedens, der demokratischen Ordnung und der Unverletzlichkeit der Menschenrechte.

„Wir, das japanische Volk, wünschen den Frieden für alle Zeiten und sind uns zutiefst der hohen Ideale bewusst, welche die menschlichen Beziehungen regeln, und wir haben beschlossen, unsere Sicherheit und Existenz im Vertrauen auf die Gerechtigkeit und Redlichkeit der friedliebenden Völker der Welt zu bewahren.“

Präambel
Die Präambel der japanischen Verfassung im Original. Quelle: gemeinfrei

Den Tenno bezeichnet die Verfassung zwar nicht offiziell als Staatsoberhaupt, aber als „Symbol des Staates und der Einheit“ (Art. 1). So entwickelte sich in der Folge faktisch eine rein repräsentative und zeremonielle Funktion ohne jegliche politische Macht. Seiner Göttlichkeit hatte Hirohito bereits bei der Kapitulation im September 1945 abgeschworen. Diese neue Funktion ihres Kaisers akzeptierten die Japaner:innen recht schnell.

Das japanische Parlament (Kokkai), besteht aus zwei Kammern. In der Regel müssen einem neuen Gesetz beide zustimmen, sie sind aber nicht gleichwertig. Das Herrenhaus aus der Meiji-Zeit, dem nur Mitglieder des Adels (Kazoku) angehört hatten, wurde durch das gewählte Oberhaus (Sangiin) ersetzt.

Diesem übergeordnet ist das Unterhaus (Shugiin), welches das Oberhaus bei der Wahl des Premierministers, beim Haushalt und bei internationalen Verträgen stets überstimmen kann. Bei der restlichen Gesetzgebung ist zumindest eine Zweidrittelmehrheit nötig. Die Regierung besteht aus dem Premierminister und seinem Kabinett, welche dem Kokkai verantwortlich sind.

Gleichheit in Frieden

Die Lehre aus den Schrecken des Krieges und einer der zentralen Aspekte der japanischen Verfassung findet sich in Artikel 9. Denn darin verzichtet Japan auf den Unterhalt einer Armee und grundsätzlich auf jegliche Kriegführung. Entsprechend trägt das 1954 gegründete Militär den Namen „Selbstverteidigungsstreitkräfte“. Ein solcher Artikel ist in der Welt der Verfassungen nahezu einmalig. Rechtskonservativen Politiker:innen ist er bis heute ein Dorn im Auge.

„Im aufrichtigen Streben nach einem auf Gerechtigkeit und Ordnung gegründeten internationalen Frieden verzichtet das japanische Volk für immer auf den Krieg als ein souveränes Recht der Nation und auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt als Mittel, internationale Streitigkeiten zu regeln.“

Art. 9, Abs. 1
Der Plenarsaal des Shugiin, des japanischen Unterhauses. Quelle: Kimtaro, CC BY 3.0 DEED

Ebenfalls neu in der japanischen Geschichte ist die komplette rechtliche Gleichstellung von Frau und Mann.

„Alle Staatsbürger sind vor dem Gesetz gleich, es gibt keine unterschiedliche Behandlung in politischer, wirtschaftlicher oder sozialer Beziehung aus Gründen der Rasse, des Glaubens, des Geschlechts, der sozialen Stellung oder Herkunft.“

Art. 14, Abs. 1

Dies gilt auch mit Blick das traditionelle Familienrecht aus der Meiji-Zeit. Dieses durfte nur mit der Einschränkung in der neuen Verfassung übernommen werden, dass es unter Einhaltung der Gleichstellung der Geschlechter angewandt wird.

Nicht in Stein gemeißelt

Änderungen der japanischen Verfassungen sind nur sehr schwer möglich. So braucht es eine Zweidrittelmehrheit in beiden Kammern des Parlaments sowie eine Volksabstimmung mit einfacher Mehrheit. Bis heute wurde die Verfassung von 1947 kein einziges Mal geändert.

Allerdings versteht sich Japan mit Blick auf den Nachbarn China zunehmend als Frontstaat in einem globalen Konflikt zwischen Autokratien und Demokratien. Deswegen gibt es seit einigen Jahren mehr Bestrebungen der Politik, den verfassungsmäßigen Pazifismus aufzuweichen. Der ehemalige Besatzer und mittlerweile engste Verbündete USA sieht das gerne.

Das Friedensdenkmal in Hiroshima erinnert an die Grausamkeiten des Krieges und steht für Japans pazifistischen Bestrebungen. Quelle: Fg2, gemeinfrei

So plante etwa die konservative Regierung 2020 eine Änderung des Artikels 9, um militärische Einsätze auch im Ausland möglich zu machen. Allerdings wurde das Vorhaben aufgrund massiver Proteste in der Öffentlichkeit (bisher) nicht umgesetzt. Angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine im Februar 2022 scheint es in der japanischen Öffentlichkeit aber eine Abkehr von der pazifistischen Grundeinstellung zu geben. Möglicherweise muss sich sogar ein auf die Ewigkeit ausgelegter Pazifismus an realpolitische Rahmenbedingungen anpassen.

Dieser Beitrag ist Teil der Blog-Reihe „In guter Verfassung“. Mit ihr möchten wir verschiedene gegenwärtige und historische Verfassungen vorstellen und dabei zeigen, wie sie Staaten und Menschen beeinflusst haben – und von diesen beeinflusst wurden.

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Über uns 
Ulli E. arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. als Projektkoordinator im Bereich Demokratiegeschichte.

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