Demokratiegeschichten

Seine Majestät und die Demokratie – die Verfassung des Deutschen Kaiserreichs

Der Norddeutsche Bund war ein von Preußen dominiertes staatliches Gebilde nördlich des Mains. Der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck schmiedete ihn nach dem Sieg über Österreich als Gegengewicht zum Habsburgerreich. Nachdem sich dann wenige Jahre später der Sieg des Bundes und seiner süddeutschen Verbündeten im Krieg gegen den Frankreich noch im Laufe des Jahres 1870 abzeichnete, sah Bismarck die Gelegenheit gekommen, alle deutschen Länder (bis auf Österreich) zu vereinigen. Grundlage hierfür sollte die Norddeutsche Bundesverfassung von 1867 sein.

Schritt für Schritt zum Nationalstaat

Im November 1870 unterzeichneten zunächst der Norddeutsche Bund, Baden und Hessen einen Gründungsvertrag, bis Januar 1871 traten dann Württemberg und Bayern bei. Noch im Dezember erhielt dieser Zusammenschluss den Namen „Deutsches Reich“ und einen „Deutschen Kaiser“ an der Spitze. All dies fasste zunächst ein Text zusammen, der am 1. Januar 1871 als Art Vor-Verfassung in Kraft trat. Bereits am 18. Januar proklamierten die deutschen Fürsten den preußischen König zum Deutschen Kaiser Wilhelm I.

Eine zeitgenössische englischsprachige Karte des Norddeutschen Bundes. Quelle: Fullarton, A. & Co., gemeinfrei

Auf dieser vertraglichen Grundlage wählten die Deutschen Anfang März dann einen neuen Reichstag. Dieses Parlament verabschiedete schließlich einen überarbeiteten Verfassungstext: Das Gesetz, betreffend die Verfassung des Deutschen Reiches, vom Kaiser unterschrieben am 16. April, trat als neue Verfassung am 4. Mai 1871 in Kraft.

Aufgrund der herausgehobenen Stellung, die der preußische Ministerpräsident im Entstehungsprozess eingenommen hatte (er hatte maßgeblich alle Entwürfe nachbearbeitet), wird die Verfassung des Kaiserreichs auch als Bismarcksche Reichsverfassung bezeichnet. Ähnlich hatte Preußen als Ganzes eine herausgehobene Stellung im Reich mit etwa zwei Dritteln der Gesamtbevölkerung – und natürlich der Tatsache, dass der preußische König gleichzeitig Deutscher Kaiser war.

Eine fürstliche Verfassung

Die Verfassung des Reiches bestand aus vierzehn Abschnitten, die beispielsweise die Zusammensetzung des Bundesgebietes, staatliche Zuständigkeiten und Organe, die (Reichs)Gesetzgebung, die Rolle von Kaiser und Reichskanzler sowie das Verhältnis von Staatsbürger:innen und Staat regelten. Einen Grundrechtskatalog gab es aber nicht. Dies war den Verfassungen der Einzelstaaten überlassen.

Reichskanzler Otto von Bismarck. Gravur von Evert Duykinck (1873). Quelle: A Portrait Gallery of Eminent Men and Women of Europe and America, with Biographies, gemeinfrei

Denn formell war das Reich ein Bundesstaat aus 25 Mitgliedsländern bzw. genauer ein Fürstenbund. Deren Vertretungsgremium auf Reichsebene, der Bundesrat, war offiziell das höchste Staatsorgan. An seiner Spitze stand das Präsidium des Bundes, das dem König von Preußen, also dem Kaiser, oblag. Kaiserliche Anweisungen standen entsprechend über allem. Seine Majestät setzte außerdem den Kanzler ein, der Vorsitzender des Bundesrats war und diesen geschäftsführend leitete. Die Regierung erhielt ihre Legitimität vom Kaiser, nicht vom Volk. Seine Majestät war darüber hinaus Oberbefehlsarmee, also auch die Armeeführung lag in seiner Hand.

Das Gremium hatte unter anderem das Recht zur Gesetzesinitiative. Die Regierungen der einzelnen Bundesstaaten konnten also sehr direkt Einfluss nehmen auf die Belange des gesamten Reiches. Den Fürsten half dabei, dass die berufenen Abgeordneten eines Bundesstaates einheitlich und so abstimmen mussten, wie es ihre Regierung ihnen aufgetragen hatte. Preußen hatte mit 17 von 58 Stimmen den größten Anteil. Dies reichte in jedem Fall, um missliebige Verfassungsänderungen zu verhindern. Auch bei Stimmengleichheit entschied das Votum Preußens.

Fortschrittliche Wahlen, aber …

Auf der anderen Seite sah die Verfassung aber auch starke einheitsstaatliche Elemente vor, allen voran der Reichstag. Denn dessen Zustimmung war für Gesetze ebenfalls notwendig. Bundesrat und Reichstag bildeten also eine Art Zweikammerparlament. Die Reichstagsabgeordnete wurden zunächst alle drei und ab 1885 alle fünf Jahre gewählt. Das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht für Männer (über 25 Jahren) auf Reichsebene war zu diesem Zeitpunkt eines der modernsten in Europa.

1893 löst Kaiser Wilhelm II. den Reichstag auf. Quelle: gemeinfrei

Die Abgeordneten waren nicht weisungsgebunden, sondern konnten ihre Entscheidungen, anders als die Ländervertreter im Bundesrat, frei treffen. Das Staatsvolk war also (theoretisch) an der Gesetzgebung beteiligt, auch weil der Reichstag ebenfalls über das Recht zur Gesetzesinitiative verfügte. Außerdem musste der Reichstag dem Haushalt zustimmen. Kontrolle über die Regierung oder die Außenpolitik hatte das Parlament aber nicht. Zudem lief der Reichstag stehts Gefahr, vom Kaiser schlicht aufgelöst zu werden.

Der gute, alte Föderalismus

Eine wichtige zentralisierende Rolle übernahm daneben der Kaiser selbst. Als Staatsoberhaupt gelobte der Monarch dem Reichstag gegenüber, die Verfassung zu achten und zu verteidigen. Letztlich konnte er aber für seine Amtsführung nicht zur Verantwortung gezogen werden, auch wenn der Kanzler das Regierungshandeln des Kaisers stets gegenzeichnen musste (galt nicht für militärische Befehle). Da dieser allerdings von Seiner Majestät ernannt sowie entlassen wurde, war hier nicht mit allzu heftigem Widerstand zu rechnen.

Grundsätzlich unterschied die Verfassung mit Blick auf Bundes- und /oder Einheitsstaat zwischen ausschließlicher und konkurrierender Gesetzgebung:

  • Bei der konkurrierenden Gesetzgebung gab es sowohl auf Reichs- als auch auf Ebene der Bundesstaaten entsprechende Gesetz und eine von beiden hatte Vorrang. Das Reich hatte etwa das Vorrecht, einheitliche Lebens- und Wirtschaftsverhältnisse für alle Bürger:innen zu schaffen. Die Gesetze der Bundesstaaten galten wiederum dort, wo keine Reichsgesetze widersprachen, so lag etwa die Gerichtsbarkeit grundsätzlich (mit wenigen Ausnahmen) bei den Bundesstaaten.
  • Bei der ausschließlichen Gesetzgebung wiederum, verstanden als ausschließliche Kompetenz des Reiches, handelte es sich um Rechtsbereiche, in denen die Bundesstaaten nichts zu sagen hatte. Hierzu gehörten beispielsweise Verfassungsänderungen, Militärausgaben, Zölle, Verbrauchssteuern und die Notstandsgesetzgebung.
Karte des Deutschen Reiches mit seinen 25 Bundesstaaten (1871–1918). Quelle: ziegelbrenner, CC BY-SA 3.0 DEED

Zumindest ein Schritt in die richtige Richtung

Das Deutsche Kaiserreich war zusammengenommen eine konstitutionelle Monarchie mit einzelnen demokratischen Elementen wie etwa den Reichstagswahlen, dem Parteienwesen und einem Rechtsstaat. Eine vollwertige Demokratie war es aber nicht. Denn der Kaiser war eben nicht nur repräsentatives Staatsoberhaupt, sondern hatte Regierungsgewalt. Wenn er sich dazu entschied, einen autokratischen Herrschaftsstil auszuüben, stand ihm wenig im Weg.

Die Verfassung des ersten deutschen Nationalstaats und damit das Kaiserreich selbst existierten beinahe fünfzig Jahre. Dann, am 14. August 1919, nach Weltkrieg und Revolution, setzte Artikel 178 der Weimarer Verfassung sie außer Kraft. Der Weg war frei für eine richtige Demokratie.

Dieser Beitrag ist Teil der Blog-Reihe „In guter Verfassung“. Mit ihr möchten wir verschiedene gegenwärtige und historische Verfassungen vorstellen und dabei zeigen, wie sie Staaten und Menschen beeinflusst haben – und von diesen beeinflusst wurden.

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Über uns 
Ulli E. arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. als Projektkoordinator im Bereich Demokratiegeschichte.

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