Demokratiegeschichten

Vorbildhaftes Handeln für Demokratie (Teil I)

In Zeiten der Corona-Pandemie seit 2020 wurde der Blickwinkel auf besonderes Verhalten nochmals in Bezug auf manche Berufs- und Engagementfelder akzentuiert. Die Tagesthemen-Serie „Held*innen des Alltags“ versuchte das Spektrum noch einmal zu weiten, wie die Titel der Sendungen verdeutlichen: Labormitarbeiterin, Krankenhaus-Seelsorger, syrische Familie näht Masken für Krankenhäuser, die Physiotherapeutin, die Reinigungskraft, die Abiturientin, Betreuung von Menschen mit Beeinträchtigungen, der Lieferservice, die Alleinerziehende, die Pastorin, die Medizinstudentin, die Polizistin, Rettungssanitäter, der DHL-Fahrer, der Tafel-Mitarbeiter, die Hebamme, die Lehrerin, freiwillige Erntehelfer, der LKW-Fahrer, am Sorgentelefon, die Krankenpflegerin, Busfahrer, Drogerie-Filialleiter und Altenpfleger.

Mehr als bloß ein Haufen Institutionen

Allen diesen Menschen, die in den Sendungen vorgestellt werden, ist gemein, dass sie etwas Besonderes für die Gesellschaft leisten: Sie haben Gemeinsinn und treten für eine größere Sache ein. Sie treten für etwas gegen Widerstände ein. Sie agieren nach dem Modus Übererfüllung oder Überwindung. Während diese Beispiele sich im sozialen Bereich abspielen, soll im Folgenden der Versuch unternommen werden, den Schwerpunkt stärker auf demokratisches Handeln zu legen.

Helden des Alltags in Zeiten der Pandemie: Lieferdienstfahrer:innen. Quelle: pixabay

Demokratie ist immer ein Prozess. So ist es wenig verwunderlich, dass sich seit der Antike die Vorstellungen von Demokratie in unterschiedlichen Zeiten und Kontexten gewandelt haben. Im Folgenden wird mit einem Demokratiebegriff operiert, der in vielen westlichen Staaten benutzt wird. Demnach ist „Demokratie“ nach vorherrschender Einschätzung mehr als ein bloßes Institutionengefüge zur Regelung politischer Willensbildung durch Mehrheitsentscheidungen. Demokratie ist nicht nur Gewährleistung von Herrschaft auf Zeit, zu ihr gehören auch Gewaltenteilung sowie Rechts- und Sozialstaatlichkeit. Demokratie lässt sich auf drei Ebenen als Herrschafts-, Gesellschafts- und Lebensform beschreiben.

Die vielfältige Demokratie

Wichtig ist dabei die Feststellung, dass es nicht „die“ Demokratie-Theorie gibt, sondern viele Lesarten von Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland möglich und legitim sind. Die Negativdefinition ist mit der Ablehnung von Diktaturen und politischem Extremismus gegeben. Die Positivdefinition bildet die im Grundgesetz kodifizierte „freiheitlich-demokratische Grundordnung“. Das heißt, die im Grundgesetz festgeschriebenen Werte, Rechte und Pflichten bieten den Rahmen, in dem sich die Weiterentwicklung der Demokratie in Deutschland vollziehen soll. Die Stärke dieses Ansatzes ist, dass unterschiedliche Vorstellungen, wie Demokratie auf der Basis des Grundgesetzes konkret ausgestaltet werden kann, ausdrücklich anerkannt und in ihrer Vielfalt als etwas Positives bewertet werden.

Die ersten 19 Artikel des Grundgesetzes vor dem Jakob-Kaiser-Haus in Berlin, Quelle: Michael Rose, CC BY-SA 2.0 DE

Die Bertelsmann Stiftung hat den Begriff der „vielfältigen Demokratie“ in die Diskussion eingebracht, mit dem nicht nur Entscheidungen im politischen System im engeren Sinne, sondern unterschiedliche demokratische Beteiligungs- und Gestaltungsmöglichkeiten in allen Lebensbereichen thematisiert werden:

  1. Formen der repräsentativen Demokratie und ihrer Institutionen
  2. direktdemokratische Formen
  3. dialogorientierte, deliberative Beteiligungsformen
  4. Proteste, Bürgerinitiativen, soziale Bewegungen
  5. bürgerschaftliches Engagement

Demokratie gestern und heute

Diese Definitionen sollen helfen zu klären, worin ein (vorbildhafter) Einsatz für eine Demokratie nun bestehen kann. Vorbildhaftes Verhalten, wie es im Folgenden an unterschiedlichen Beispielen thematisiert werden soll, wird enger auf diese „vielfältige Demokratie“ fokussiert. Damit wird keinem Primat des „Politischen“ vor dem „Sozialen“ das Wort geredet. Vielmehr wird bewusst ein bestimmter Blickwinkel eingenommen. Dieser fokussiert auf die Funktionsweise der Demokratie und hat deshalb das Potenzial, zu tieferen Erkenntnissen in eben jenem Themenfeld zu führen.

Nimmt man die Dimension Zeit in die Betrachtung hinein, muss eines klar sein: Die Beispiele vorbildhaften Verhaltens für Demokratie, die sich in der Geschichte finden lassen, werden unterschiedlich sein. Dies hängt zum einen damit zusammen, dass uns für manche Einstellungen und Handlungen einfach keine Quellen vorliegen, die darüber Auskunft geben könnten. Zum anderen sind mögliche Verhaltensweisen auch immer zeitgebunden. Manche Aktions- und Engagementformen hängen stark vom politischen und gesellschaftlichen Kontext ab; nicht in jeder Zeit und in jedem Umfeld ist jedes Handeln möglich.

Die Akropolis in Athen, Gemälde von Leo von Klenze (1846), Quelle: Neue Pinakothek, München, gemeinfrei

Erwartungen an Vorbilder

Die Vielfalt und Unbestimmtheit von Erwartungen, die mit dem demokratischen System verbunden sind, haben auch Auswirkungen darauf, wie in der Demokratie agierende Organisationen und Personen bewertet werden. Der Kommunikationswissenschaftler Bernhard Pörksen spitzt dies darauf zu, dass sich die Öffentlichkeit die Frage stellen müsse, welche Art von politischen Akteurinnen und Akteuren man eigentlich wolle:

Im Moment prallen aus meiner Sicht ziemlich infantile Erlösungs- und Verehrungssehnsüchte auf eine allgemeine Lust an der Entzauberung und auf eine grell überbelichtete Welt, in der dann große und kleine Fehler blitzschnell bekannt werden […]. Wir wollen verehren – wir wollen entzaubern. Wir wollen Aura, Charisma, Distanz – und gleichzeitig Nähe, Berührbarkeit, das Authentische. Wir wollen Kaiser und Kumpel gleichermaßen, und das widerspricht sich.

Bernhard Pörksen: „Wir wollen Kaiser und Kumpel“

Es gibt gar nicht so viele Versuche zu beschreiben, welche Verhaltensweisen in einer Demokratie überhaupt als wünschenswert angesehen werden. Die Scheu vor einer normativen Verengung und Reglementierung ist verständlich. Gleichzeitig wird politische Bildung nicht gänzlich an dieser Frage vorbeikommen. So weist etwa Erinnerungsarbeit „unübersehbar besondere Wertbezüge auf, sie besitzt implizit oder auch explizit eine normative Dimension“.

Teil II dieses Beitrags erscheint am 10. September 2022 und ist hier zu finden.

Bei diesem Text handelt es sich um einen Auszug aus der Publikation Vorbilder der Demokratiegeschichte. Handlungen und Einstellungen, die beeindrucken und Orientierung geben können. Diese und weitere Veröffentlichungen von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. können kostenfrei in der Geschäftsstelle bestellt werden und stehen hier zum Download zur Verfügung.

Artikel Drucken
Markiert in:,
Über uns 
arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V.

0 Kommentare

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert