Dass Mord nicht verjährt, ist heute in Deutschland eine Selbstverständlichkeit. Klar und deutlich heißt es dazu in Paragraph 78 des Strafgesetzbuches:
Verbrechen nach § 211 (Mord) verjähren nicht.
Strafgesetzbuch (StGB) § 78 Verjährungsfrist
Doch so alt ist dieser Paragraph noch nicht. Erst am 3. Juli 1979 beschloss der Deutsche Bundestag, die Verjährung für Mord aufzuheben. Die Diskussion darüber, auch als „Verjährungsdebatte“ bekannt, erstreckte sich über fast 20 Jahre. Und zählt zu den Sternstunden des deutschen Parlamentarismus.
Fragen auf Zeit
Dürfen nationalsozialistische Verbrechen verjähren? Und wenn ja, wann?
Anfang 1960 musste sich der Bundestag erstmals die Frage stellen, ob die im im Nationalsozialismus verübten Verbrechen wie andere verjähren konnten. Denn für Verbrechen wie beispielsweise Beihilfe zum Mord galt eine Verjährungsfrist von 15 Jahren. Diese wurde vom Mai 1945 – bzw. Juli in der amerikanischen Besatzungszone – an berechnet. Schließlich wäre im NS-Regime selber keine strafrechtliche Verfolgung möglich gewesen. 15 Jahre nach 1945, eben 1960, lief diese Frist für entsprechende Verbrechen also aus. Für Mord – 20 Jahre Verjährungsfrist – wäre dies 1965 der Fall gewesen.
Bereits im Mai 1960 schlug die SPD-Bundestagsfraktion daher eine Ausweitung des Beginns der Verjährungsfrist auf den 16. September 1949 vor. Dies war der Tag nach der Wahl von Konrad Adenauer zum ersten Bundeskanzler. Sie begründeten dies damit, dass die Rechtspflege vorher aufgrund der Besatzung stillgestanden hätte. Der Rechtsausschuss des Bundestages lehnte diesen Gesetzentwurf jedoch ab.
Warum überhaupt Verjährung?
Manche:r fragt sich vermutlich, wieso Straftaten wie Totschlag und Mord überhaupt verjähren können? Doch so seltsam dies angesichts der Schwere der Verbrechen klingt, für eine Verjährung gibt es gute Gründe. Man geht davon aus, dass eine Strafverfolgung nach einer gewissen Zeit schlichtweg ihren Sinn verliert. Zu diesen Gründen gehören etwa:
- der Verlust des positiven Abschreckungseffekt durch die Verurteilung
- die Abnahme des Bedürfnisses nach Bestrafung und der Sinn der Strafe durch Verstreichen von Zeit
- die zunehmende Unzuverlässigkeit von Zeugenaussagen und Beweismittel durch Verstreichen von Zeit
Doch kann man diese Gründe auch auf die Verjährung von NS-Verbrechen anwenden?
Hintergründe der Debatte von 1965
Fünf Jahre später drohten nun die im Nationalsozialismus begangenen Morddelikte erneut zu verjähren. (Die DDR hatte die Verjährung von Kriegs- und nationalsozialistischen Verbrechen übrigens im Jahr zuvor ausgesetzt.) In den Medien diskutierte man hitzig, Gesellschaft und Parlament waren gespalten. Laut Meinungsforscher:innen sprach sich eine knappe Mehrheit der Bevölkerung für die Verjährung aus. Im Bundestag befürwortete insbesondere die SPD eine Verlängerung. Währenddessen bezog sich die liberalkonservative Regierung aus FDP und CDU/CSU auf das im Grundgesetz verankerte Verbot rückwirkend eingeführter Gesetze. Auch aus dem Ausland, insbesondere Israel und den USA, meldeten sich Stimmen zu Wort.
Die Debatte wurde auch deshalb so intensiv geführt, weil es nicht länger nur um eine Frage des Strafrechts ging. Es ging auch um die Frage, wann ein Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit zu ziehen sei. Und ob Frieden in der Gesellschaft schwerer wöge als die Verantwortung gegen den Opfern und ihren Angehörigen. Es ging um Fragen der Vergangenheitsbewältigung und des gesellschaftlichen Zusammenlebens.
Plenardebatte von 1965 – Sternstunde des Parlamentarismus
Am 10. März 1965 diskutierten die Abgeordneten ohne Fraktionszwang über mehrere Stunden intensiv, emotional, aber stets fair miteinander. Die eine Seite konnte sich nicht vorstellen, ungesühnte Massenmorde der Nationalsozialisten und den Völkermord verjähren zu lassen und führte politisch-moralische Gründe an. Auf der anderen Seite standen die, die durch einen rückwirkend geltenden Strafanspruch die Grundsätze des Rechtsstaats, den sie als Antwort auf das Unrechtsregime geschaffen hatten, in Gefahr sahen.
Die gesamte Debatte ist auf Bundestag.de verfügbar. Hier will ich nur eine Stimme jeder Seite zu Wort kommen lassen.
Für die Verlängerung bzw. Abschaffung der Verjährungsfrist
Nach Bundesjustizminister Ewald Bucher (FDP) sprach zuerst der CDU-Abgeordnete Ernst Benda, mit 40 Jahren ein relativ junger Abgeordneter. Er sprach sich entschieden dafür aus, die Verjährungsfrist zu verlängern oder aufzuheben.
Nach dem Bericht der Bundesregierung […] ist die Möglichkeit nicht auszuschließen, daß nach dem 8 Mai 1965 neue Straftaten bekanntwerden, die Anlaß zu weiteren Ermittlungen geben müßten. Der Bericht, den der Berliner Senat dem Berliner Abgeordnetenhaus vor kurzer Zeit gegeben hat, kommt für seinen begrenzten, aber für die Verfolgung von Verbrechen sehr wichtigen Bereich zu dem gleichen oder zu einem ähnlichen Ergebnis. Danach scheint mir die Folgerung, daß eine Verlängerung oder gar Aufhebung der Verjährung notwendig ist, für jeden zwingend zu sein, der sich nicht damit abfinden will, daß solche schwersten Verbrechen ungesühnt bleiben müssen. (8521B)
Deutscher Bundestag, 170. Sitzung, Sitzungsbericht, S. 8521
Es ist doch egal, ob wir hier als Juristen oder als Angehörige anderer Berufe in unserem Privatleben stehen: wir versuchen doch — so unvollkommen das im Ergebnis auch sein mag —, die Gerechtigkeit zu unserem Teil und zu unserer Zeit, ich sage nicht ‚zu verwirklichen‘ — das ist ein fernes Ideal —, sondern anzustreben, der Gerechtigkeit etwas näherzukommen. Das ist zugleich das Kernanliegen des Rechtsstaats, und darin trifft sich die juristische Frage mit der politischen Frage.
Deutscher Bundestag, 170. Sitzung, Sitzungsbericht, S. 8522
Neben der juristischen und politischen Frage sprach Brenda auch die nach Gnade und Vergebung an:
Es gibt Stimmen, auch von von mir sehr geachteten Kollegen meiner eigenen Fraktion — ich spreche das mit sehr großem Zögern an —, die die Begriffe der Gnade und der Vergebung in die Diskussion einbringen. Dazu sind zunächst einmal nur die Opfer legitimiert, wir, glaube ich, nicht. Im übrigen scheint es mir — ich sage das mit aller Vorsicht — nicht möglich zu sein, auch vom Standpunkt eines Christen aus ohne Erkennen der Schuld von Gnade zu reden.
Deutscher Bundestag, 170. Sitzung, Sitzungsbericht, S. 8525
Für die Beibehaltung der Verjährungsfrist
Thomas Dehler von der FDP argumentierte, dass die Rechtsstaatlichkeit beibehalten werden müsse. hielt unbeirrt an seiner Überzeugung fest, dass eine rechtsstaatlich einwandfreie Lösung selbst durch eine Grundgesetzänderung nicht erreichbar sei. Er bekannte aber:
Was können wir tun, um im Einklang mit der Stimmung, mit dem Willen der Welt zu sein? Sollen wir mit ihr hassen, verfluchen, Schuld und Sühne verewigen? Können wir dadurch Schaden von unserem Volke wenden? Nein, wir können der Welt nur schlicht und fest unseren Willen zum Recht dartun. Ein Mehr gibt es nicht. Zum Recht, zu unserem Recht gehört auch, daß Schuld, daß jede Schuld verjährt. Auch das gehört zu den Erfahrungen meines Lebens, daß der Mangel an Recht, der Mangel an Rechtsstaatlichkeit Schaden bringt. Der Weg zum Staat des Unrechts ist dadurch gebahnt worden, daß der Wille zur unbedingten Rechtsstaatlichkeit nicht lebendig genug war.
Deutscher Bundestag, 170. Sitzung, Sitzungsbericht, S. 8541
Er betonte, dass eine eine Verjährung neben den praktischen juristischen Gründen auch menschliche habe:
In der langen Zeit, die seit dem Begehen einer Straftat verstrichen ist — jetzt können es schon 32 Jahre sein —, ist die Persönlichkeit des Täters eine andere geworden, sie hat sich gewandelt. Es ist zu fragen: Was hat ein Beschuldigter heute noch mit der Tat zu tun, die vor 25 Jahren unter ganz exzeptionellen Verhältnissen geschehen ist, — damals vielleicht ein verhältnismäßig junger Mann, der jetzt ein gereifter Mann geworden ist?
Deutscher Bundestag, 170. Sitzung, Sitzungsbericht, S. 8543
Dehler war zur Zeit des Nationalsozialismus selber im Widerstand aktiv. Trotzdem äußerte er den Gedanken, dass
…(j)eder von uns, der damals Verantwortung getragen hat, hat das Empfinden, daß er zuwenig für das Recht gekämpft hat, daß er zuwenig Mut zur Wahrheit gehabt hat, nicht stark genug war in der Abwehr des Bösen.
Deutscher Bundestag, 170. Sitzung, Sitzungsbericht, S. 8541
Die Diskussion geht weiter…
Nach der Diskussion entschied der Bundestag nach einer weiteren Beratung im Rechtsausschuss, den Beginn der Verjährungsfrist auf den 1. Januar 1950 festzulegen. Somit war die strafrechtliche Ahndung für NS-Morde bis Ende 1969 weiter möglich. Bundesjustizminister Bucher, der sich für die Beibehaltung der Verjährung eingesetzt hatte, trat daraufhin zurück.
Damit war die Debatte allerdings nur vertagt. Im Juni 1969 trat das Parlament abermals wegen dieser Frage zusammen. Als Konsequenz aus dieser Sitzung wurde die Verjährung für Völkermord aufgehoben. Damit folgten die Abgeordneten einer Resolution der Vereinten Nationen aus dem Vorjahr, die besagte, dass Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht verjähren. Außerdem setzte das Parlament die Verjährungsfrist für Mord auf 30 Jahre fest.
…und endet 1979
Zum letzten Mal diskutierte der Bundestag 1979 über die Verjährungsfrage. In der Zwischenzeit hatten einige Veränderungen stattgefunden. So reagierte eine sozialliberale Koalition aus SPD und FDP. Die Studentenproteste seit Ende der 1960er-Jahre führten zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit der Schuldfrage. Und die Ausstrahlung der US-amerikanischen Serie „Holocaust“ Anfang 1979 löste eine neue Debatte um NS-Verbrechen aus. Zusätzlich sprach sich noch das Europaparlament gegen die Verjährung von Mord aus.
Am 3. Juli beschloss der Deutsche Bundestag mit 255 zu 222 Stimmen, die Verjährung auch für Mord aufzuheben. Im Gesetzesentwurf heißt es zu den Gründen für die Aufhebung unter anderem:
Der Schutz des Lebens als eines Höchstwertes unserer Verfassungsordnung gebietet, einen des Mordes dringend Verdächtigen auch nach langem Zeitablauf noch strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Es ist deshalb folgerichtig, neben dem Völkermord auch den Mord als einen Fall schwersten Unrechtsgehalts von der Verjährung auszunehmen. […}
Deutscher Bundestag, Drucksache 8/2653, S. 4.
Die Aufhebung der Mordverjährung gewinnt auf dem Hintergrund der Vielzahl und der Grausamkeit der während der nationalsozialistischen Gwaltherrschaft begangenen Morde besondere Bedeutung. Zwar ist nicht wahrscheinlich, daß nach dem 1. Jauar 1980 noch sehr viele Täter bekannt werden, gegen die die Verjährung der Strafverfolgung nicht unterbrochen wurde. Für den Rechtsfrieden wäre es jedoch nicht erträglich, wenn nur einige wenige Täter nach dem 1. Januar 1980 bekannt würden, ohne für diese Taten strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden zu können.
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