Demokratiegeschichten

100 Jahre politischer Mord in Deutschland – Umkämpfte Erinnerung an die Revolution

„Die Republik begeht heute ihren dritten Geburtstag. Das ist ein Anlaß nicht zu Jubelfeiern, aber zu ernstem Gedenken.“

So beginnt Otto Braun, in der Weimarer Republik fast durchgängig Ministerpräsident des Freistaates Preußen, am 9. November 1921 seinen Leitartikel in der SPD-Zeitung „Vorwärts“ zum Jahrestag der Revolution.

Über das Scheitern der Monarchie

„Die Monarchie in Deutschland ist nicht an der Kraft der inneren Gegner zugrunde gegangen, sondern an ihrer eigenen Unfähigkeit, sich in einer Weltkrise zu behaupten. Alle Parteien stimmten darin überein, daß die Politik des kaiserlichen Deutschland nach Bismarck verhängnisvoll falsch gewesen ist. […]

Nach der totalen Auflösung der alten Ordnung wäre Deutschland ins Chaos versunken, wenn nicht die Arbeiter die Führung übernommen und die deutsche Republik aufgerichtet hätten. Das bleibt ein Ruhmesblatt in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, soviel auch später durch Zersplitterung und Bruderkampf gesündigt worden ist.“

Originaltitel: Novemberrevolution 1918 in Deutschland.
In Berlin beginnt am Morgen des 9. November 1918 der Generalstreik und der bewaffnete Kampf. Die Soldaten verbrüdern sich mit dem revolutionären Proletariat. Die Monarchie und die kaiserliche Regierung wird gestürzt.
Demonstrationen am 9.11. in Berlin, Unter den Linden, in Höhe der Universität Foto: Bundesarchiv Bild 183-18594-0045, Foto: o. Angabe

Würdig Gedenken

Von Feiern, von Freude ist keine Rede. Vielmehr ruft Braun seine Leser zum weiteren Durchhalten auf. Wie er weist auch das von SPD und USPD geleitete thüringische Staatsministerium in der „Freiheit“ darauf hin, dass die Probleme der Republik ihre Ursache in den Fehlern der Monarchie haben. Trotzdem klingt Stolz auf die errungene Demokratie an – eine Haltung, die in der Weimarer Republik nicht sehr verbreitet ist.

„Vom 9. November 1918 führte diese rastlose Arbeit zum 1. Mai 1920, zum Geburtstage des Freistaates Thüringen. 9. November und 1. Mai werden daher immer bedeutsame Tage für unser Land bleiben, Feiertage, die nicht überkommen sind aus vergangenen Zeiten harter Knechtschaft und geistiger Bevormundung, sondern entsprungen und errungen sind durch den Willen und die Arbeit eines freigewordenen, sich selbst regierenden Volkes.“

Reine Ablehnung

Ganz anders die „Berliner Börsen-Zeitung“. Für sie ist der 9. November der Tag,

„[…], an dem vor drei Jahren Haufen von halbwüchsigen Burschen in den Straßen der Reichshauptstadt eine Revolutionsgroteske aufführten […].“

So ein Tag dürfe selbstverständlich nicht durch einen Feiertag gewürdigt werden. Dass die Beschäftigten der Berliner Verkehrsbetriebe ihre Arbeit für zehn Minuten ruhen lassen wollen, werde ihnen, so hofft die „Börsen-Zeitung“, harsche Kritik einbringen. Darüber schreibt auch die „Deutsche Allgemeine Zeitung“ am 10. November:

„Kalt und eindruckslos verlief die gestrige Revolutionsfeier. […]

Etwas Besonderes war diesmal nur die 10-Minuten-Feier der Hochbahner. Die Züge hielten 10 Minuten auf den Haltestellen, wobei die Fahrgäste nichts anderes tun konnten, als auf dem Steig auf und ab zu gehen und sich zu langweilen. Soweit sie zu jenen Leuten gehörten, die angestrengt zu arbeiten haben, konnten sie stille Betrachtungen anstellen über die soziale Denkweise der Verursacher dieser Verkehrsstörung, die das Wort ‚sozial‘ stets im Munde führen, sich aber nicht scheuen, berufstätige Leute sinn- und zwecklos um einen wesentlichen Teil ihrer Zeit zu bestehlen. Übrigens schienen sich die Hochbahner […] selbst recht unbehaglich zu fühlen, schlugen die Hände auf dem Rücken zusammen, um sich warm zu machen, und vermieden es, den in ihrer Fahrt aufgehaltenen Fahrgästen ins Auge zu sehn.“

Zehn Minuten Stillstand – auch hier: Berlin, an der Hochbahn Bülowstraße, Aufnahme von 1910, Quelle: Bundesarchiv Bild 146-1988-045-19, Foto: o. Angabe

Drei Jahre nach der Revolution und dem Sturz der Monarchie ist von Aufbruchstimmung nichts mehr zu spüren. Auch die Unabhängigen Sozialdemokraten blicken skeptisch auf die Republik, da die „Bourgeoisie“ die Bruderkämpfe der Arbeiter zur eigenen Machtvermehrung genutzt habe.

Wie erfolgreich war die Revolution?

„Während sich die verschiedenen Arbeiterparteien über die Frage der besten Staatsform gegenseitig die Köpfe einschlugen, eroberte die Bourgeoisie auf wirtschaftlichem Gebiet Schritt um Schritt das verlorene Terrain zurück, ja, sie eignete sich, begünstigt durch ihre größere Bewegungsfreiheit in der demokratischen Republik […] eine Machtfülle an, die sie in solchem Umfange nie besessen hatte. […] Zu den Machtstellungen des alten junkerlichen Obrigkeitsstaates, die in Form zahlreicher wichtiger Posten in der Regierung, Verwaltung, Justiz usw. erhalten geblieben waren, kamen nun die neuen wirtschaftlichen und politischen Machtpositionen des Großkapitals hinzu.“

Diese Herrschaft des Kapitals habe längst „die Form einer Diktatur angenommen“, schreibt die „Freiheit“ am 9. November 1921.

Die Gesellschaft ist gespalten. Während die einen drei Jahre nach der Novemberrevolution die vermeintlich bessere Ordnung der Vorkriegszeit zurücksehnen, hoffen die anderen auf eine noch radikalere Revolution. Entschiedene Befürworter hat die Republik nur wenige.

Deutschlandfunk Kultur sendet in Kooperation mit dem Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung (Potsdam) ab dem 25. August 2021 jeweils mittwochs gegen 19:25 Uhr die Reihe 100 Jahre politischer Mord in Deutschland.  

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Über uns 
Historikerin, Autorin, Kuratorin Mitarbeiterin im Projekt "Gewalt gegen Weimar" am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

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