Demokratiegeschichten

8. Mai 1985: Eine Überkreuz-Aktion 40 Jahre nach Kriegsende

Wer sich in der DDR für den Weltfrieden einsetzen wollte, musste damit rechnen, es mit dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) zu tun zu bekommen. Manchmal standen sich die Stasi-Mitarbeiter bei ihren konspirativen Aushorch-Aktionen aber auch selbst im Weg. Hier möchte ich darüber berichten, wie mir der Zufall zum Erfolg dabei verhalf, zum 8. Mai 1985 unbehelligt einen friedlichen Appell an die Botschaften der Westmächte in Ost-Berlin zu übergeben.

Im März 1985 gründete sich in der DDR auf meinen Impuls hin eine Initiativgruppe, die eine eigenwillige Aktion zum 40. Jahrestag der Kapitulation Deutschlands plante. Einige Freunde von mir und ich entwickelten die Idee zu einer öffentlichkeitswirksamen gemeinsamen Aktion der Friedensbewegungen in Ost und West. Die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges sollten aufgefordert werden, sich militärisch aus Deutschland zurückzuziehen. Dadurch sollten beide deutsche Staaten schließlich die Möglichkeit erhalten, aus ihren Militärblöcken auszusteigen.

Die „Ost-West-Überkreuz-Aktion“

Wer aber konnte die Westmächte und die Sowjetunion auffordern, ihre treuesten Vasallen in die Neutralität zu verabschieden? Sollten dies die Angehörigen der Friedensbewegungen beider Länder in einem gleich lautenden Brief an ihre jeweilige Schutzmacht versuchen? Das hätte aus unserer Sicht einen gewissen Reiz besessen.

Aber dann fiel mir noch etwas Besseres ein : Die unabhängige Friedensbewegung der DDR schreibt an die drei Westmächte und die Friedensbewegung der BRD schreibt an die Sowjetunion. Mit dieser „Überkreuz-Aktion“ würden wir die enge Verzahnung der Zivilgesellschaften in Ost und West dokumentieren und den Militärblöcken verdeutlichen, dass der Einsatz für Blockfreiheit nur von unten in einer abgestimmten Aktion möglich sein kann. Zudem hielt ich das Risiko staatlicher Repressionen für etwas geringer, als wenn wir uns an die Sowjetunion gewandt hätten.

An der Clara-Zetkin-Straße in Berlin-Mitte, nahe der US-Botschaft: Mirko Pusch, Lutz Nagorski, Martin Böttger, Mario Wetzky (v,l.n.r.). Quelle: MfS HA VIII (Observation)/ Matthias-Domaschk-Archiv der Robert-Havemann-Gesellschaft.  

Tatsächlich blieb die kleine Gruppe, die die Briefe an die Ostberliner Botschaften der USA, Großbritanniens und Frankreichs übergeben wollte, von staatlicher Behinderung weitgehend verschont. Das MfS beschränkte sich darauf, uns genau zu beobachten. Folgende Personen gehörten der Gruppe, die sich nach ihrer ersten Zusammenkunft im März 1985 „Initiative für Blockfreiheit“ nannte, an: Lutz Nagorski, Pfarrer Martin Michael Passauer, Mirko Pusch, Mario Wetzky und ich. Formulierungshilfe leisteten Stephan Bickhard und Gerd Poppe. 

Freunde in West-Berlin machen mit

Ich hatte damals schon einige Kontakte zu Friedensgruppen in der Bundesrepublik. Diese galt es zu nutzen. Vor allem meine Freunde in Westberlin versprachen, mitzumachen. Es waren Menschen aus dem Umfeld der Alternativen Liste. Besonders aktiv war Torsten Schramm. 

Der Brief begann dann mit folgendem Motto aus dem Schwur von Buchenwald:

„Die Vernichtung des Faschismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.“

Dann folgte der Dank für die Befreiung vom Nationalsozialismus durch die Anti-Hitler-Koalition und für unsere Seite die Bitte an die Westmächte: 

„Die neuen Gefahren zwingen uns, Sie aufzufordern, mit der Sowjetunion und den anderen am Konflikt beteiligten Ländern in Verhandlungen einzutreten, die den bisherigen Rahmen verlassen und die Blockkonfrontation beenden sollen.“ 

Wir schlugen als Verhandlungsziele den Abzug der in den deutschen Staaten stationierten ausländischen Truppen vor. Gleichzeitig sollten die beiden Großmächte ihre in den anderen europäischen Blockländern stationierten Gruppen und Waffenpotentiale reduzieren. 

40 Mitglieder der ostdeutschen unabhängigen Friedensbewegung unterzeichneten diesen Brief. 

Zweimal 40 Unterschriften

Einen ganz ähnlichen, in Teilen sogar wortgleichen Brief schrieben Mitglieder der westdeutschen Friedensbewegung an den Obersten Sowjet in Moskau. Auch dieser Brief trug 40 Unterschriften. Somit hatte die Zahl 40 bei dieser Aktion eine große symbolische Bedeutung. 

Die Briefe sollten dann am 8. Mai 1985, also genau 40 Jahre nach Kriegsende, bei den entsprechenden diplomatischen Vertretungen abgegeben werden. 

Am Tag der Übergabe war Martin Michael Passauer leider verhindert, und so machten sich die anderen Mitglieder unserer Fünfergruppe auf den Weg: Lutz Nagorski, Mirko Pusch, Mario Wetzky und ich. Die Stasi fotografierte uns intensiv und recht auffällig. So entstanden zahlreiche Dokumente, die sich sowohl in der Ablage der Hauptabteilung VIII (Beobachtung) als auch in meiner Akte wieder finden.

von links nach rechts: Lutz Nagorski (IM Christian), Martin Böttger, Mirko Pusch (IM…), Mario Wetzky (IM Martin). Quelle: MfS HA VIII (Observation)/ Matthias-Domaschk-Archiv der Robert-Havemann-Gesellschaft.  

Eine Kuriosität dieser Aktion erfuhr ich allerdings erst nach Aktenöffnung. Alle meine drei Begleiter, also Lutz, Mirko und Mario waren IM des MfS.

Was wäre wohl gewesen, wenn sich die Vierergruppe vor der Übergabe erst einmal beraten und darüber abgestimmt hätte, ob sie die Aktion zu Ende führen solle? Eine solche Abstimmung hätte ich garantiert verloren. Aber keiner meiner Begleiter wusste, dass sich noch zwei weitere IM in der kleinen Gruppe aufhielten und strebte somit auch keine Verhinderung der Aktion an. Da sie auch nicht alle vom gleichen Führungsoffizier gesteuert waren, kam es auch nicht von Stasiseite zu einem Abbruch der Aktion. Manchmal hat mangelnde Koordination auch ihre gute Seite.

Zusammenhörigkeitsgefühl der Friedenbewegungen

Was wurde aus der Gruppe? Sie ging zum Teil in der im Herbst 1985 gegründeten „Initiative für Frieden und Menschenrechte“ auf. An eine Reaktion der Adressaten auf unseren Brief kann ich mich nicht erinnern. Trotzdem war die Aktion nicht umsonst, denn sie förderte das Zusammengehörigkeitsgefühl verschiedener Friedensgruppen in Ost und West.

Mirko Pusch, Martin Böttger, Lutz Nagorski (von hinten), Mario Wetzky. Quelle: MfS HA VIII (Observation)/ Matthias-Domaschk-Archiv der Robert-Havemann-Gesellschaft.  

Martin Böttger (Jg. 1947) studierte Physik, war Bausoldat, promovierte in Technische Mechanik, engagierte sich in der unabhängigen Friedensbewegung der DDR und koordinierte das NEUE FORUM in Südwestsachsen. Von 1990 bis 1994 war er Landtagsabgeordneter in Sachsen und ist seit 2006 unter anderem Mitglied bei Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.

Die Fotos wurden freundlicherweise vom Matthias-Domaschk-Archiv der Robert-Havemann-Gesellschaft übergeben. Es bestehen keine Urheberrechte.   

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