Demokratiegeschichten

Benjamin Disraeli – Premierminister seiner Majestät (I)

Unsere politische Historie ist eng mit der Geschichte anderer europäischer Länder verbunden, die in ihrer politischen Entwicklung mittelbar und unmittelbar Einfluss auf unser Land hatten. Dabei begegnen wir oft Demokratiegeschichten, die der Entwicklung in Deutschland vorauseilten oder hinterherliefen. Sie halten uns auf diese Weise einen Spiegel vor und geben uns neue Einsichten in die Entwicklungen hierzulande. Es lohnt also immer wieder, einen genaueren Blick auf die Demokratiegeschichte anderer Länder zu werfen. 

Durch mein Studium im Vereinigten Königreich habe ich eine enge Bindung an die Insel und ihre Geschichte. Besonders begeistert hatte mich hier stets der besondere Parlamentarismus, die Qualität der Debatte und die Leidenschaft in der Auseinandersetzung im House of Commons. Das „Order! Order!“ des damaligen Sprechers des Hauses, John Bercow, wird uns noch lange in den Ohren klingen, wenn wir z.B. an die Brexitdebatten denken.  

Das 19.Jahrhundert kann in Großbritannien ohne Zweifel als eine goldene Ära des Parlamentes gesehen werden. Zu dieser Zeit waren die Parteistrukturen noch nicht besonders stark ausgeprägt und die Abgeordneten agierten weitaus unabhängiger als heute. Politiker verschiedener Parteien zeigten in ihren emotionalen Debattenbeiträgen, dass ein Parlament stets auch die Herzkammer einer Demokratie ist. 

Kaum ein anderer britischer Politiker repräsentierte das mehr als Benjamin Disraeli (1804-1881), der zwei Mal (1868, 1874-1880) zum Premierminister berufen wurde. Über mehr als 40 Jahre prägte er die britische Politik maßgeblich. Zugleich war er einer der größten Meister der politischen Debatte, die dieses Hohe Haus je erleben durfte. 

Eine besondere Biographie des viktorianischen Englands


Benjamin Disraeli; Gemälde von Francis Grant 1852. Das Porträt zeigt Disraeli in jungen Jahren. Werk gemeinfrei.

Benjamin Disraeli war der Sohn des zu seiner Zeit bekannten Autors Isaac Disraeli. Die Familie war erst in der Generation zuvor aus Spanien nach England ausgewandert und konvertierte während der Kindheit Disraelis vom Judentum zum anglikanischen Christentum. Der Name gab bereits ein Indiz zur religiösen Herkunft der Familie und war erst in der vorherigen Generation von D’Israeli in Disraeli geändert worden. Durch den Übertritt eröffneten sich der Familie neue Möglichkeiten, da im 19. Jahrhundert Juden auch im liberalen Großbritannien noch viele Türen, insbesondere die meisten Wege in die Politik, verschlossen blieben. Trotz der Konversion wurde Disraeli aber im Laufe seines Lebens immer wieder Opfer antisemitischer Vorurteile und Verleumdungen. 

Isaac Disraeli erwarb durch seine Arbeit einen gewissen Wohlstand und konnte seinen beiden Kindern eine gute Ausbildung finanzieren. An dieser hatte sein 1804 geborener Sohn Benjamin aber nur bedingt Interesse. Bekannt für seine Frauengeschichten und finanziell immer klamm versuchte er sich anfangs als Finanzinvestor. Daran scheiterte er aber krachend und verlor nicht nur eigenes Geld, sondern auch die Ersparnisse vieler Freunde und Kunden. Um die Schulden abzubezahlen stürzte er sich in eine neue Arbeit, dem Schriftstellertum. 1826 erschien sein erstes Buch „Vivian Grey“, ein recht erfolgreicher Roman über die englische Oberschicht. Allerdings wurde er von der Kritik verrissen, da Disraeli offensichtlich kaum Kenntnis über die besseren Kreise des Landes hatte. Gesellschaftlich brachte ihn das Buch nicht weiter.

Aus dem Scheitern Lernen

Disraeli zog aber zwei Lehren aus den gescheiterten Versuchen. Einerseits erkannte er, dass er gut schreiben konnte und Leute bereit waren, seine Bücher zu kaufen. Im Laufe seines weiteren Lebens veröffentlichte er allein 17 Romane, nebst weiteren Sachtexten.

Andererseits verstand er nun, dass er Leute leicht von sich überzeugen konnte. Sodass sie beispielsweise einem jungen Mann wie ihm Geld für Investitionen anvertrauten oder ihm überhaupt Vertrauen schenkten. Es dauerte nicht lange und Disraeli erkannte den Karrierepfad, der seine Talente am besten abdeckte: Er wollte in die Politik. 

Im House of Commons

House of Commons, Zeichnung von 1834, Referenzgemeinfrei.

Mit der Unterstützung reicher Gönner stellte er sich 1832 und 1835 in mehreren Wahlkreisen vergeblich zur Wahl. Unterstützt wurde er dabei vom damaligen Lord Chancellor (damals Minister, oberster Richter und Vorsteher des House of Lords), Lord Lyndhurst. Dieser führte ihn in die höheren Kreise der Konservativen ein.

Bei einem der Abendessen im Hause Lyndhursts im frühen Jahr 1835 kam es zur ersten belegten Begegnung mit dem jungen konservativen Abgeordneten William Gladstone. Für ihn war noch nicht absehbar, wie prägend dieses Treffen für sein weiteres Leben werden sollte. 1837 war Disraeli schließlich erfolgreich und wurde als Tory, also als konvervativer Abgeordneter in das House of Commons gewählt.

Hier fand er sich als einfacher Hinterbänkler wieder und langweilte sich in seiner neuen Rolle. Seine Kollegen nahmen ihn auch nur selten ernst. Er fiel vor allem durch sein ungewöhnliches Aussehen auf, da er sich für die damaligen Verhältnisse sehr bunt und extravagant kleidete. Seine erste Rede im Parlament endete in einem Desaster. Dennoch träumte er von höherem und wollte einen Kabinettsposten. Seine Berufung in die Regierung blieb aber aus. Bald kam er zu der Überzeugung, dass der damalige Premierminister Sir Robert Peel (nach dem heute noch die Polizisten auf der Insel benannt sind) seine Karriere behinderte. Disraeli bereitete sich darauf vor Rache zu nehmen.

Disraeli und der Sturz der Regierung Peel

Robert Peel, Bild: Wikimedia.

In einer Reihe von Reden im House of Commons griff er die Regierung scharf an, obwohl sie seiner eigenen Partei angehörte. Es ging um das alte Thema der Zölle auf Getreide. Premierminister Peel wollte durch günstige Importe Mehl und Brot für die Armen erschwinglicher lassen. Disraeli wusste aber die Abgeordneten aus den ländlichen Regionen hinter sich. Denn die waren meist jüngere Söhne von Adligen, deren wirtschaftlicher Wohlstand auf hohen Getreidepreisen beruhte. Disraelis Einfluss wuchs.

Peel wusste so lange nicht, wie er mit dieser Herausforderung aus den eigenen Reihen umgehen sollte, bis es zu spät war. Bei der Abstimmung über die Zölle verlor die Regierung ihre Mehrheit. Peel und sein Kabinett zögerten nicht lange und verließen die Partei, um eine eigene Fraktion zu bilden. Mit ihm verließen nahezu alle bedeutenderen Talente die Tories, darunter auch Disraelis späterer Widersacher William Ewart Gladstone. Die Gruppe um Peel sollte schließlich zu den Liberalen übertreten.  

Disraeli würde diese Passage seines Lebens später seiner jugendlichen Leidenschaft zuschreiben. Die Kornpreise dürften ihm dabei egal gewesen sein. Aber er zeigte sein besonderes politisches Talent. Der inhaltlich kompetente, aber eher langweilige Peel war nicht in der Lage, sich gegen den politischen Neuling Disraeli zu wehren. Dieser wurde rasch zu einem der begabtesten politischen Redner seiner Zeit. Nur Gladstone sollte ihm in dieser Disziplin gewachsen sein. 

Erste Regierungserfahrung 

Gravur von Edward Geoffrey Smith-Stanley, 14th Earl of Derby; gemeinfrei.

Die Konservativen mussten sich hingegen nach dem Weggang ihres Parteiführers erst neu formieren. Der neue Führer der Tories, der Earl of Derby, erhielt einige Jahre später, im Jahr 1852, die Aufgabe der Regierungsbildung. Mit den verbliebenen Hinterbänklern musste er eine Regierungsmannschaft bilden.

Das schaffte er auch, aber schon die Verkündung der Namen wurde zu einem Desaster. Als im House of Lords die Namen der neuen Minister vorgetragen wurde, verstand der alte, schwerhörige Duke of Wellington die Namen nicht und rief laut „Who? Who?“ in den Sitzungssaal. Das erste Kabinett Derby wurde schließlich unter dem Namen des „Who? Who?-Ministry“ bekannt. Die Regierung konnte sich des Spotts der Straße sicher sein. 

Für Disraeli war die neue Regierung aber ein Sprungbrett für seine weitere Karriere. In Ermangelung anderer guter Redner in der Fraktion wurde er zum Schatzkanzler berufen und damit zur faktischen Nummer 2 der Regierung. Da Lord Derby als Adliger nicht im House of Commons sitzen durfte, wurde Disraeli auch zum „Leader of the House“, zum Fraktionsführer der Regierungsfraktion bestimmt. Somit fiel ihm auch die Aufgabe zu, sich regelmäßig mit anderen Rednern wie Gladstone rhetorisch zu duellieren.  

Scheitern und Wiederaufstieg

Das Glück währte nur kurz. Denn Disraeli hatte nur geringe Kenntnisse in der Regierungsarbeit. Als er seinen ersten Staatshaushalt im Parlament vorstellte, machte er seine Aufgabe recht gut und erhielt sogar Beifall für seine Rede. Als sich aber sein Widersacher Gladstone zur Gegenrede erhob, endete sein Glück sehr schnell. Gladstone hielt eine der besten Reden seiner Karriere. Daraus folgte die Ablehnung des Haushalts durch das Unterhaus und damit auch der erzwungene Rücktritt der Regierung. 

William Ewart Gladstone, 1861; Foto: John Jabez Edwin Paisley Mayall.

Die 1850er und 1860er waren politisch betrachtet eine eher unruhige Phase in der britischen Politik. Durch das Aufbrechen des klassischen Zwei-Parteien-Systems (einerseits die Whigs bzw. die Liberalen, andererseits die Tories, aus denen unter Disraeli die Konservative Partei werden sollte) und die außenpolitische Lage mit dem Krim-Krieg wurden die Regierungen instabil und die Premierminister wechselten häufig.

Für Disraeli ergab sich schließlich 1866 die bisher größte Chance seiner Karriere. Zum dritten Mal übernahm Lord Derby die Position des Premierministers und machte Disraeli wieder zu seinem Schatzkanzler. Die Regierung tat sich durch eine Reihe von großen Reformprojekten hervor.

Dazu gehörte beispielsweise die Wahlrechtsreform von 1867. In ihr wurde auf die aktuelle Bevölkerungsentwicklung Rücksicht genommen. Dadurch verschwanden viele kleine Wahlkreise oder stellten statt mehreren Abgeordneten nur noch einen (üblich waren Mehrmandatswahlkreise). In Ballungszentren kamen außerdem neue Wahlkreise hinzu. Der Plan für dieses Gesetz wurde vor allem von Lord Derby forciert, aber Disraeli verkaufte es später als seine eigene Leistung.

Fortsetzung

Am Mittwoch folgt Teil II des Beitrags zu Benjamin Disraeli. One Nation Toryism, britisches Weltreich, europäische Friedenspolitik – dies sind nur ein paar Stichpunkte aus seiner Regierungszeit.

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Über uns 
Björn Höfer ist Mitglied von Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. und promoviert in St Andrews und Potsdam im Bereich "Politischer Katholizismus zwischen Weimar und Bonn".

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