Demokratiegeschichten

Benjamin Disraeli – Premierminister seiner Majestät (II)

Am Montag erschien Teil I des Beitrags zu Benjamin Disraeli. Er beschäftigt sich mit seinem privaten und politischen Leben bis zur ersten Ernennung zum Premierminister des Vereinigten Königreichs.

Aus gesundheitlichen Gründen zog sich der Earl of Derby Anfang 1868 aus der Politik zurück. So öffnete sich eine Tür für Disraeli, als er von Königin Victoria als neuer Regierungschef bestellt wurde.

William Gladstone um 1890 (Fotografie: gemeinfrei)

Die erste Amtszeit Disraelis verlief relativ ereignislos. Über die Frage des Umgangs mit Irland zerbrach schließlich die Mehrheit der Konservativen. Bei der Wahl im Dezember 1868 erhielten die Liberalen unter Gladstone eine bedeutende Mehrheit. Disraeli widmete sich wieder dem Schreiben von Büchern und übernahm die Rolle des Oppositionsführers. Im Jahr 1872 starb dann seine Frau Sarah. Dies traf den sonst so taktisch denkenden und oft gar kühlen und reservierten Politiker sehr hart und veranlasste ihn, sich für eine gewisse Zeit aus dem politischen Kampf herauszuhalten. 

Eine neue Chance auf einen Kabinettsposten ergab sich aber bereits 1874. Die Regierung Gladstones stolperte über das gleiche Thema wie Disraeli: Irland. Gladstone trat die Flucht nach vorne an und rief Neuwahlen aus. Die Konservativen konnten 78 Mandate hinzugewinnen und verfügten über eine Mehrheit im Unterhaus. Disraeli zog wieder in Downing Street 10 ein.

One Nation Tory 

Der zentralste Begriff der Innenpolitik Disraelis sollte die Idee des „One Nation-Toryism“ werden. Damit beschrieb man die Verknüpfung zwischen einer klassischen konservativen Politik mit den Ansätzen einer moderneren Wirtschafts- und Sozialpolitik. Bisher waren die Tories vor allem eine Partei der ländlichen Elite gewesen. Diese traten für Themen wie den Schutz der englischen Kirche und der Krone oder die Stärkung des Empires ein. Schon ein Blick in die Romane Disraelis machte aber deutlich, dass er Konservatismus anders verstand.

In seinen Romanen „Coningsby“ und „Sybil“ setzte er sich mit der grassierenden Armut in der britischen Arbeiterklasse auseinander und forderte eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen. Während seiner zweiten Amtszeit als Premier (1874-1880) konnte Disraeli Gesetze durchsetzen, die Arbeitern das Streikrecht gesetzlich sicherten und die verhinderten, dass Arbeitnehmer bereits für einen geringen Bruch ihres Arbeitsvertrages ins Gefängnis kommen konnten. Im Verhältnis zu den späteren Sozialreformen Bismarcks mögen diese Änderungen sehr überschaubar erscheinen. Für Großbritannien bedeuteten sie aber einen großen Umschwung im Arbeitsrecht.

Neue Gesundheits- und Ernährungspolitik 

Darüber hinaus konnte Disraeli gerade in seiner zweiten Amtszeit eine Reihe von weiteren Reformprojekten durchsetzen. Viele dieser Maßnahmen betrafen die öffentliche Gesundheit. Ein groß angelegtes Sozialbauprogramm sollte die Arbeiterslums in den Industriestädten verschwinden lassen und neue Wohnungen bereitstellen. Darüber hinaus wurden Gesetze erlassen, die die öffentliche Hygiene verbesserten. Neue Kanalisationsanlagen wurden finanziert und Standards für Wasserqualität und die Hygiene in Wohnpensionen eingeführt. Darüber hinaus setzte die Regierung ein Gesetz durch, dass neue Normen in der Herstellung und im Verkauf von Lebensmitteln festschrieb. Dies verbesserte die Qualität von Nahrungsmitteln deutlich. 

Der spätere linksliberale Abgeordnete Alexander Macdonald gab kleinlaut gegenüber seinen Wählern zu, dass die Konservativen in fünf Jahren mehr in der Sozialpolitik geschafft haben, als die Liberalen in einem halben Jahrhundert. 

Rule Britannia!?

Disraeli macht Königin Viktoria zur Kaiserin von Indien (Karikatur in Punch, 1876, gemeinfrei

Disraeli wurde recht schnell der Ruf zuteil, dass er für Königin Victoria der Favorit unter ihren Premierministern war. Anfangs war sie dagegen, dass ein Nachfahre jüdischer Einwanderer ihrer Regierung vorstehen sollte. Disraeli war aber berüchtigt für seinen Charme, der auch Eindruck auf die Königin machte. Seine Indienpolitik sollte ihm dabei noch helfen.

In den 1870er Jahren war Großbritannien die einzige Monarchie unter den Großmächten, die „nur“ ein Königreich war. Die Deutschen, die Österreicher und die Russen hatten alle einen Kaiser. Sie standen damit protokollarisch im Rang über den britischen Monarchen. Disraeli fand die Lösung darin, dass er per Gesetz Victoria zur Kaiserin von Indien erklären ließ. Die Königin-Kaiserin sollte ihm das für den Rest seines Lebens danken, was sich vor allem mit seiner Erhebung in den Adelsstand als Earl Beaconsfield zeigte.  

Außenpolitisch setzte Disraeli auf den Ausbau des Empires. Man darf sich dabei keine Illusionen über sein Verhältnis zum Kolonialismus machen. Hier war er ganz klar ein Kind seiner Zeit und unterstützte auch die gewaltsame Expansion des Empires. In seine Regierungszeit fielen die blutigen Konflikte in Afghanistan und gegen die Zulus in Südafrika.  

Friedensstifter 

In Europa setzte er hingegen auf den Erhalt des Friedens auf dem Kontinent. Nachdem schon der Krim-Krieg mit einer großen Zahl an Toten endete, waren es wieder einmal Auseinandersetzungen zwischen den Russen und den Osmanen, die zu einem Flächenbrand in der Region führen konnten. Großbritannien und die anderen europäischen Länder waren daran interessiert, die Expansion Russlands weitestgehend einzudämmen, ohne dass es wieder zu einem bewaffneten Konflikt kam. Das Resultat dieser Bemühungen war der Berliner Kongress 1878. Hier konnte Disraeli erfolgreich die Interessen Großbritanniens vertreten. Er erlangte den Respekt der anderen europäischen Spitzenpolitiker, insbesondere die des Gastgebers, Otto von Bismarck.

Disraeli auf dem Berliner Kongress (6. v. l.) (Gemälde von Anton von Werner, 1881), Abbildung: gemeinfrei

Gladstones Rache und Abschied aus der Politik 

All diese Ideen konnte er auch deswegen umsetzen, da sein großer Gegenspieler Gladstone nach seiner Wahlniederlage 1874 die politische Bühne verlassen hatte – bis jetzt. 1878 begann Gladstone mit einer neuen Wahlkampagne im schottischen Wahlkreis Midlothian. In diesen wies er auf die Defizite der Innenpolitik Disraelis hin und kritisierte das Handeln der Regierung angesichts der langanhaltenden Rezession in den 1870er Jahren. Disraeli, bzw. nun Earl Beaconsfield konnte als Adliger traditionsgemäß nicht mehr in den Wahlkampf eingreifen. Somit fehlte ihm eine Basis, adäquat auf Gladstones Angriffe zu reagieren.  

Disraelis Roman Endymion in dritter Auflage (Foto: gemeinfrei)

Das Ergebnis war für die Konservativen verheerend. Sie verloren 105 Sitze und gaben den Liberalen eine der größten Mehrheiten, die diese Partei je im House of Commons hatte. Disraelis Nachfolger als Premierminister wurde sein alter Gegner Gladstone.  

In der Folgezeit wurde es ruhig um Disraeli. Zwar war er immer noch der Führer der Konservativen im House of Lords, aber seine Gesundheit verschlechterte sich zusehends. Asthma und Gicht machten Tätigkeiten in der Politik immer schwerer. Im November 1880 veröffentlichte er seinen letzten Roman „Endymion“. Am 19. April 1881 verstarb er auf seinem Landsitz Hughenden Manor und wurde anschließend in der dortigen Dorfkirche begraben. Gladstone sagte über den Tod und die Beerdigung seines politischen Rivalen abschätzig: „As he lived, so he died — all display, without reality or genuineness.“

Benjamin Disraeli – Drama und Komödie des britischen Parlamentarismus 

Benjamin Disraeli ist eine kuriose wie auch zugleich faszinierende Person, die in der Geschichte ihresgleichen sucht. In verschiedenen Hinsichten ist er einer der buntesten Kanarienvögel der neuesten Politikgeschichte. Sein Kleidungsstil, sein Auftreten und seine Lebensführung, alles wich teils absichtlich, teils durch die gegebenen Umstände von der gesellschaftlichen Norm ab. Zugleich dürfte es aber nur wenige Menschen in den vergangenen zwei Jahrhunderten gegeben haben, die die Klaviatur der Politik so virtuos zu spielen verstanden wie Disraeli. Ich würde sogar so weit gehen, dass eine Karriere wie die seine nur in einem parlamentarischen System möglich war. Für sein Weiterkommen benötigte er stets die Bühne der politischen Debatte.  

Mit seinen Romanen machte Disraeli ganzen Historikergenerationen ein großes Geschenk. Literarisch mag ich sie nur schwer beurteilen. Entscheidend ist viel mehr, dass Disraeli in seinen Werken auch über seine Politik nachdachte. So kann man viele Aspekte seines politischen Wirkens noch einmal aus einem anderen Blickwinkel verstehen. Seine Romane gaben ihm aber durchaus auch die Möglichkeit, seine Agenda in ein ihm genehmes Licht zu rücken.

Abbildung: Creative Commons

Konflikte in der Demokratie

Seine Gegnerschaft mit Gladstone zeigte einige der Vorzüge des politischen Systems des Vereinigten Königreichs. Der rhetorische Wettstreit zwischen beiden machte in vielen politischen Streitfragen den Unterschied aus, der auch erwartete Entscheidungen noch einmal kippen konnte. Das Wohl und Scheitern ganzer Regierungen hing von der Auseinandersetzung im Parlament ab. Disraeli und sein Rivale schenkten sich in der Debatte kaum etwas.

Jenseits der Politik führten sie ihre Fehde aber nur selten fort. So war Gladstone gut bekannt mit Disraelis Frau. Entsprechend hielt er sich gegenüber seinem Opponenten politisch zurück, als dieser um seine Ehefrau trauerte. Hier sehen wir ein Beispiel, wie eine funktionierende Demokratie Debatten, ja auch Streit überstehen kann und zugleich benötigt – durch das verantwortliche Verhalten beider Seiten. Vielleicht ist gerade das die zentrale Lektion, die man heute noch aus dem Leben Disraelis ziehen kann.  

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Über uns 
Björn Höfer ist Mitglied von Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. und promoviert in St Andrews und Potsdam im Bereich "Politischer Katholizismus zwischen Weimar und Bonn".

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