Demokratiegeschichten

Anerkennung zum richtigen Zeitpunkt einfordern – Gusti Steiner und die Besetzung der Dortmunder Westfalenhalle (Teil II)

Teil I dieses Beitrags ist hier zu finden.

Eine gemeinsame Bewegung zwischen diesen sich überschneidenden Gruppierungen entstand jedoch erst 1980. Am 25. Februar jenen Jahres verkündete das Landgericht Frankfurt ein Urteil, nach dem die Anwesenheit von Menschen mit Behinderung in einem Urlaubshotel als erstattungsfähiger „Reisemangel“ galt.

Jedenfalls dann, schrieben die Richter, „wenn es sich um verunstaltete geistesgestörte Menschen handelt, die keiner Sprache mächtig sind, von denen einer oder der andere in unregelmäßigem Rhythmus unartikulierte Schreie ausstößt und gelegentlich Tobsuchtsanfälle bekommt.“ Im Gegensatz zu erholungssuchenden Tourist:innen zählten die Richter Menschen mit Behinderung, eben weil sie behindert waren, offenbar nicht zum „Volk“, in dessen Namen sie das Urteil sprachen.

Ein empörendes Gerichtsurteil

Das Frankfurter „Reisemangel“-Urteil schlug hohe Wellen und löste bundesweit Empörung aus. In Frankfurt kam es zu einer Demonstration von 5000 Menschen mit und ohne Behinderung gegen das Urteil, über das die Tagesschau berichtete. In vielen Wohnzimmern konnten Zuschauerinnen und Zuschauer sehen, dass Menschen mit Behinderung selbstbestimmt agierten, sich nicht isolieren ließen und sich gegen ihre gesellschaftliche Diskriminierung wehrten.

Gusti Steiner. Quelle: Rasso Bruckert

Das Urteil war ein Signal für die einzelnen Gruppierungen, die zusammen eine „Aktionsgruppe gegen das UNO-Jahr“ gründeten, die den Plan entwarf, 1981 mit Demonstrationen die weiterhin fehlende Teilhabe in Deutschland von Menschen mit Behinderung offenzulegen und Verbesserungen zu fordern. Ein Aktivist brachte es auf den Punkt: „Das Jahr zu nutzen, heißt gegen das Jahr aufzutreten!“

Der erfolgreiche Protest in der Westfalenhalle 1981 bedeutete nicht, dass die alltägliche Ausgrenzung und institutionelle Aussonderung von Menschen mit Behinderung in Westdeutschland endete. Protest allein ist kein Garant für Veränderung. Aber er schärfte nach und nach ein gesellschaftliches und institutionelles Bewusstsein für die Situation von Menschen mit Behinderung.

Veränderungen im Alltag und im Grundgesetz

In Einrichtungen und Wohlfahrtsverbänden blieb die Selbstbestimmung in der Diskussion, es entstanden (Selbst-)Hilfeangebote und Interessenverbände – und ganz konkrete Möglichkeiten, um Barrieren abzubauen, fanden ihren Weg: Eigens ausgewiesene Parkplätze, rollstuhlgerechte Eingänge, Fahrstühle und Autobahntoiletten, die Verwendung der Leichten Sprache. Die rechtliche Gleichstellung ist seit 1994 im hinzugefügten zweiten Satz des Artikels 3, Abs. 3 GG festgeschrieben: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“. Dennoch findet nach wie vor Ausgrenzung von Menschen mit Behinderung statt.

Demonstrationszüge, die Besetzung öffentlicher Räume und das Abhalten von Kundgebungen in diesem Raum sind, solange sie gewaltlos verlaufen, in einer Demokratie legitime Formen des Protests. Sie sind auch ein fester Bestandteil der Demokratiegeschichte. Aber ist es demokratisch, wenn jemand durch absichtliches Stören daran gehindert wird, in einer öffentlichen Versammlung zu sprechen, wie es dem Bundespräsident 1981 in der Dortmunder Westfalenhalle erging? Hatten Gusti Steiner und die behindertenbewegten Aktivistinnen und Aktivisten hier nicht eine Linie überrollt?

Die Macht der öffentlichen Aufmerksamkeit

Proteste und Demonstrationen sind ein Mittel der politischen Kommunikation, denn sie tragen marginalisierte Interessen in die Mehrheitsgesellschaft. Sie sind ein Zeichen dafür, dass in einer Gesellschaft ein Konflikt existiert, der gelöst werden muss, aber nicht die dafür notwendige Aufmerksamkeit erhält. Die Besetzung der Dortmunder Westfalenhalle, aber auch die Protestaktionen davor, waren ein Medium für die gesellschaftliche Auseinandersetzung über die fehlende Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung, der eben jene Behindertenbewegten nun Sichtbarkeit verschaffen wollten.

Gusti Steiner während einer öffentlichen Protestaktion. Quelle: Archiv der behindertenpolitischen Selbsthilfe (AdbS), Dortmund | Ernst Herb

Zwar hatten sich bereits zuvor Menschen mit Behinderung in Gruppierungen zusammengeschlossen und versucht, auf die vielfach unwürdige Lebenssituation von Menschen mit Behinderung und ihren Mangel an Teilhabe im Alltag und in der Politik aufmerksam zu machen. Aber diese Versuche blieben vielfach unter der Schwelle, öffentlich sichtbar zu sein und Veränderung herbeizuführen.

Erst mit dem Frankfurter Gerichtsurteil wurde diese Schwelle überschritten – und die Aktivistinnen und Aktivisten um Gusti Steiner sahen mit dem UNO-Jahr 1981 die Möglichkeit, die bestehende Aufmerksamkeit zu nutzen und ihrem eigenen Anliegen durch ihre physische Anwesenheit und eine vernehmliche Geräuschkulisse im öffentlichen Raum selbstbestimmt Ausdruck zu verleihen.

Vorbildlich war dabei nicht allein der Dortmunder Protest. Vorbildlich war, dass die Aktivistinnen und Aktivisten – als Institutionen und Politik auf das Anliegen der Menschen mit Behinderung reagierten – auf dieses Gesprächsangebot eingingen und so die Kraft des Protests in die geregelte politische Konfrontation überführten. Beide Formen hängen also zusammen: Gusti Steiner nutzte die Spielräume, die ihm die Demokratie bot, um mit dem Protest auf eine Ungerechtigkeit hinzuweisen, damit auf dem Weg der politischen Auseinandersetzung Verbesserungen herbeizuführen – und somit den Alltag aller Menschen in Deutschland selbst ein Stück weiter zu demokratisieren.

Zum Autor

Jan Ruhkopf ist Historiker. Seit 2021 ist er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter für die Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus in Stuttgart tätig. Dort koordiniert er unter anderem die „100 Köpfe der Demokratie“.  Er studierte Geschichte, Allgemeine Rhetorik und Öffentliches Recht in Tübingen und promovierte 2022 mit einer Studie zur Geschichte des Bundesvertriebenenministeriums.

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