Demokratiegeschichten

Contergan – Leid durch Medizin

Ein Baby ist für viele Menschen ein fester Bestandteil ihrer Lebensplanung. Es vervollständigt unser Verständnis einer Familie und wird in den meisten Fällen mit viel Freude und Zuversicht erwartet. Umso mehr Druck liegt auch auf den Eltern. Sie sind darum bemüht, alles für das Wohlergehen des Kindes zu tun. Für die Zeit der Schwangerschaft finden sich bis heute endlose Ratschläge und Tipps. Wie verhält man sich in der Schwangerschaft? Was ist der Entwicklung des Babys besonders zuträglich und natürlich: Was gilt es tunlichst zu vermeiden?

Diese und ähnliche Fragen stellten sich wohl auch Eltern in den 1950er und 1960er Jahren. Natürlich befragte man die Medizin, um sich Rat zu holen. Genau diese Empfehlungen, die Ärzte und Apotheker wohl nach bestem Gewissen gaben, waren jedoch hoch problematisch: Sie trugen zu einer der größten Katastrophen der Medizingeschichte bei. Das bezeugte die Geburt von 5.000 bis 10.000 körperbehinderten Kindern weltweit und eine Dunkelziffer an Totgeburten zwischen den Jahren 1950 bis 1970. 

Der Beginn der Katastrophe

Der Wirkstoff, der den Schwangeren das Leben eigentlich erleichtern sollte, hieß Thalidomid. Er sorgte dafür, dass weniger Unruhe und Übelkeit die Anwenderin plagten. Verschiedene Tests durch das Pharmazieunternehmen „Grünenthal“, das seit 1954 über das Patent für Thalidomid verfügte, erfolgten. Hierbei stellten die Mitarbeiter*innen keine negativen Auswirkungen auf getestete – nicht trächtige – Mäuse fest. Eiligst brachte Grünenthal das Mittel am 1. Oktober 1957 auf den Markt: Contergan war geboren.

Foto: Wikipedia

Von 1957 bis 1961 wurde Contergan ohne Rezeptpflicht vertrieben. Grünenthal betonte, es sei „unschädlich wie Zuckerplätzchen“, einfach und effizient in der Anwendung. Diese Aussagen leitete man auch an Ärzte weiter, die das Schlafmittel ihren Patient*innen empfahlen. Wer schlecht schlief oder Probleme mit Übelkeit in der Schwangerschaft hatte, konnte in jede Apotheke gehen, um sich Contergan für 3,90 D-Mark zu kaufen. Bald traten jedoch die ersten Probleme auf: Verschiedene Patient*innen klagten über „beständige Unruhe, Reiz- und Ausfallerscheinungen an Händen und Füßen, Abschwächung der Muskelreflexe, Lähmungen sowie Schmerzen beim Gehen“. Laut Grünenthal handelte es sich hierbei nur um „Nervenreizungen“. Verschwiegen wurde, dass diese Schäden teilweise permanent waren. Nichtsdestotrotz führte man im August 1961 immerhin eine Rezeptpflicht für Contergan ein. 

Missbildungen durch Atomtests?

Doch noch eine andere Entwicklung fiel auf: Die Missbildungen an Neugeborenen häuften sich. Die Zahlen von Kindern, die unter Missbildungen, fehlenden Gliedmaßen sowie fehlenden Organen litten oder gar totgeboren wurden, stiegen kontinuierlich. Im Jahr 1958 berieten die Abgeordneten des Bundestages zum ersten Mal über diese Veränderungen. Ein Rückschluss auf das Medikament Contergan blieb allerdings zunächst aus. Man bezog sich auf den Bericht eines Kinderarztes, dem zufolge die Kernwaffentests der 1950er Jahre zu Fehlbildungen unter Neugeborenen führten. Verschiedene weitere Anfragen an den Bundestag scheiterten auf Basis dieser Erklärung. Contergan und die Firma Grünenthal blieben derweil von den Debatten völlig unbehelligt. 

Der Contergan-Skandal kommt ins Rollen

Doch die Zahlen der körperbehinderten Neugeborenen schossen weiter dramatisch in die Höhe. Bis zum Jahr 1960 kamen allein in Deutschland 4.000 dieser Kinder zur Welt, viele verstarben direkt nach der Geburt. Erst als der Arzt Wiedukind Lenz den Zusammenhang zwischen den Missbildungen und Contergan prüfte und publizierte, veränderte sich die öffentliche Wahrnehmung. Man forderte die sofortige Einstellung des Vertriebs. 

Grünenthal wehrte sich vehement gegen diese Erkenntnisse. Den Eltern der geschädigten Kinder warf das Unternehmen unter anderem Alkohol- und Schlafmittelmissbrauch vor, sodass sie für die Schäden selbst verantwortlich seien. Trotz aller Versuche musste das Unternehmen sich am 27. November 1961 dem öffentlichen Druck beugen. Vier Jahre nach seiner Zulassung wurde Contergan vom Markt genommen. Für tausende Kinder kam diese Einsicht jedoch zu spät. 

Heute – Betroffen aber nicht wehrlos

Die Erfahrungen mit Contergan nahmen zunächst keinen großen Einfluss auf das Arzneimittelrecht. Im Jahr 1964 wurde zunächst eine allgemeine Rezeptpflicht für neue Medikamente eingeführt. Pharmaunternehmen sollten ihre Medikamente nun genauer prüfen, bevor sie sie auf den Markt bringen konnten. Wie sie diese Tests vornahmen, blieb ihnen allerdings selbst überlassen. Erst 1976, also mehr als ein Jahrzehnt nach Contergan, wurden einheitliche – strenge – Kriterien zur Prüfung neuer Medikamente eingeführt.

Im Prozess gegen Grünenthal kam es 1968 schlussendlich zu einem Vergleich. Die Eltern der geschädigten Kinder sollten auf eine weitere Klage verzichten. Im Gegenzug zahlte das Unternehmen 100 Millionen D-Mark an eine Stiftung, die heute unter dem Namen „Conterganstiftung“ geläufig ist. 2009 zahlte Grünenthal erneut 50 Millionen Euro. Viele der Betroffenen sind heute über 50 Jahre alt und leiden an Haltungsschäden und anderen Spätfolgen, deren Kosten sie teilweise nur mühselig decken können. Durch die Firma Grünenthal und die Stiftung fühlen sie sich abgespeist. Die meisten Betroffenen haben sich mittlerweile in Verbänden organisiert. Auch sie möchten in Würde leben und altern – trotz Contergan.




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Michèle W. arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V.

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