Demokratiegeschichten

Den Willen des Volkes ermitteln – Veronika Ostertag und die Wahlhilfe (I)

Die demokratische Handlung

Am Nachmittag des 26. Mai 2019 füllt sich die Messe Augsburg zunehmend mit Menschen, die sich um die dort aufgebauten Tische herum in Gruppen von sechs Personen zusammenfinden. Auch Veronika Ostertag steht an einem Tisch und wartet auf ihre Mitstreiter:innen, mit denen sie an diesem Tag bei der Europawahl als Wahlhelferin des Briefwahlbezirks 6171 tätig sein wird. Weil sie die Wahlvorsteherin ihres Teams ist, bringt sie noch rasch einen für alle sichtbaren Zettel mit den wichtigsten Hinweisen zu den Abläufen und Aufgaben an und legt sicherheitshalber ein paar Ersatzkugelschreiber bereit. Um 14 Uhr ist das Team vollständig und die Vorbereitung der Auszählung kann beginnen.

Drei Kisten mit Briefumschlägen stehen auf dem Tisch vor Ostertag und ihren Kolleg:innen. Wie viele Briefe ein Team auszählen muss, ist recht unterschiedlich, doch die Verantwortlichen achten für gewöhnlich darauf, dass an keinem Tisch mehr als 1.000 Umschläge bearbeitet werden müssen. Diese gilt es zu zählen, zu öffnen und den Inhalt zu überprüfen. Darin finden die Wahlhelfer:innen, wenn die Briefwähler:innen alle Angaben genau befolgt haben, den Wahlschein und den verschlossenen Wahlumschlag. Ostertag und die anderen kontrollieren, ob jeder Wahlschein richtig ausgefüllt und unterschrieben ist, und legen dann die Wahlumschläge getrennt davon in 20er Stapeln zusammen.

Wähler*in bei der Stimmabgabe; Foto: Alexander Hauk.

Wiederholungshelferin

Für Ostertag ist dies schon die fünfte Wahl, an der sie als Wahlhelferin teilnimmt. Das erste Mal ist sie 2013 bei der bayrischen Kommunalwahl dabei, zu der sie noch als städtische Bedienstete einberufen wird. Auch weil ihr damaliges Team sehr organisiert und strukturiert arbeitet und alles großartig funktioniert, entscheidet sich Ostertag, auch bei weiteren Urnengängen als Wahlhelferin dabei zu sein. Seither hilft sie bei Kommunal-, Bezirkstags-, Landtags- und Bundestags- sowie Europawahlen und kann sich aufgrund ihrer Erfahrung gut vorstellen, sich für die bald anstehende Wahl im März 2020 sogar als Wahlberaterin zu engagieren. Sie würde dann die Wahlvorsteher:innen bei Fragen zu Abläufen oder bei Problemen innerhalb der Teams unterstützen.

Nach einer Pause im Sonnenschein vor der Augsburger Messehalle beginnt dann das eigentliche Auszählen der Stimmen. Nun öffnen Ostertag und die anderen Freiwilligen die Wahlumschläge und sortieren die Wahlzettel darin nach Parteilisten. Dabei dürfen sie sich keinen noch so kleinen Fehler erlauben. Auch deshalb gibt es vor jeder Wahl eine Schulung für die Helfer:innen. Sollte es am Ende in Relation zu den Briefumschlägen doch zu viele oder zu wenige abgegebene Stimmen geben, muss alles noch einmal ausgezählt werden – im Zweifel wieder und wieder und wieder. Jede:r Bürger:in hat dabei das Recht, den Wahlhelfer:innen über die Schultern zu schauen und sich zu vergewissern, dass die Auszählung nach den Regeln einer demokratischen Wahl abläuft.

Stimmzettel Bundestagswahl 2017; Foto: Bluemel1.

Neutralität ist gefragt

Wahlhelfer:innen müssen dabei stets politisch neutral sein. Dies bedeutet, dass sie keine Werbung für einzelne Parteien machen dürfen, aber es geht noch darüber hinaus. Auch wenn Ostertag mit ihren Wahlhelfer:innen noch keine ernsthaften schlechten Erfahrung gemacht hat, kommt es doch hin und wieder vor, dass sie beispielweise bei einem genervten Aufstöhnen nach dem Blick auf einen Wahlzettel darauf hinweisen muss, die eigene politische Meinung nicht offen zu zeigen. Dies tut sie aber nicht nur wegen der Wahlbeobachter:innen. Sie findet auch, dass es schlicht dazugehört, sich als Wahlhelfer:in mit der eigenen politischen Einstellung zurückzuhalten.

Je nachdem, wie viele Briefwahlunterlagen an einem Tisch auszuzählen sind, kann es durchaus bis 23 Uhr dauern, bis die Wahlhelfer:innen von ihrer selbstauferlegten Pflicht entbunden werden. Diesmal ist die Auszählung schon gegen 22 Uhr beendet. Davor muss Ostertag als Wahlvorsteherin ihren Mitstreiter:innen noch offiziell das Auszählergebnis ihres Tisches mitteilen, bevor auch sie sich auf den Heimweg machen und gespannt die Wahlberichterstattung am Fernseher verfolgen kann.

Warum Wahlen?

Auszählen von Stimmzetteln in Berlin 1946; Foto: Deutsche Fotothek, CC BY-SA 3.0 DE. ‎

Wahlen gehören zu den zentralen Aspekten einer Demokratie, da sie wichtige Funktionen in diesem System erfüllen. Durch sie übergeben die Wähler:innen für eine bestimmte Zeit die Herrschaft an Vertreter:innen, die diese dann in ihrem Namen ausüben. Die Wahlergebnisse repräsentieren ebenso gesellschaftliche Interessen, indem etwa verschiedene ideologische oder ethnisch-religiöse Positionen widergespiegelt werden. Durch Wahlen bildet sich darüber hinaus eine politische Elite, die aber anders als in autoritären Systemen immer unter dem Druck steht, bei schlechter Eignung nach der nächsten Wahl ausgewechselt zu werden. Wahlen verhindern zudem, dass gesellschaftliche Konflikte gewaltsam ausgetragen werden, und garantieren in der Regel eine friedliche Übergabe der Macht. Nicht zuletzt legitimieren sie in einer Demokratie sowohl die jeweilige Regierung als auch das gesamte politische System. Hier sind sie die konstanteste und zuverlässigste Repräsentation der Stimme des Volkes.

Teil II folgt am 08. November.

Bei diesem Text handelt es sich um einen Auszug aus der Publikation Vorbilder der Demokratiegeschichte. Handlungen und Einstellungen, die beeindrucken und Orientierung geben können. Diese und weitere Veröffentlichungen von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. können kostenfrei in der Geschäftsstelle bestellt werden und stehen hier zum Download zur Verfügung.

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Über uns 
Ulli E. arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. als Projektkoordinator im Bereich Demokratiegeschichte.

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