Demokratiegeschichten

Der Baltische Weg

Am 23. August 1989 bildeten Hunderttausende Menschen aus Estland, Lettland und Litauen eine rund 600 Kilometer lange Menschenkette. Mit dieser verbanden sie die drei Hauptstädte Tallinn, Riga und Vilnius. Das Datum war bewusst gewählt: 50 Jahre zuvor, am 23. August 1939, wurde der Hitler-Stalin-Pakt geschlossen.

Das Baltikum: Besetzt oder Angeschlossen?

Darin enthalten war ein geheimes Zusatzprotokoll, in dem Deutschland und die Sowjetunion das Baltikum und Polen unter sich aufgeteilt hatten. Die drei baltischen Staaten sollten sich der Sowjetunion „anschließen“. Dazu wurden nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs „sozialistische Revolutionen“ inszeniert. Offiziell wurden die Staaten zum 21. Juli 1949 sowjetisch. Und laut sowjetischer Propaganda hätten sich Estland, Lettland und Litauen freiwillig zum Beitritt als sozialistische Sowjetrepubliken der UdSSR entschieden.

Infolgedessen annektierte die Sowjetunion die drei baltischen Staaten während des Zweiten Weltkriegs. Nach einer zwischenzeitlichen Besatzung durch die Nationalsozialisten folgte dann wieder eine sowjetische. Insbesondere in den 1940er und 1950er Jahren gingen mit den Fremdherrschaften auch zahlreiche Morde und Deportationen her. Hunderttausende Menschen wurden nach Sibirien deportiert, um den Widerstand gegen die Sowjetherrschaft zu unterbinden.

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Das geheime Zusatzprotokoll vom 23. August 1939 zum Nichtangriffspakt; Foto: ThoralfSchade/ CC BY-SA 4.0.

Bis 1957 war es außerdem an den Schulen verboten, die jeweiligen Landessprachen zu unterrichten. Auch (Volks-) Lieder sowie die ehemaligen Nationalhymnen, die einen patriotischen Klang hatten, waren verboten. Gleichzeitig setzte eine Ansiedlung von Russen und anderer Völker der Sowjetunion. Damit wurde in den kleinen baltischen Ländern, die keine große Bevölkerung hatten, auch eine Russifizierung bezweckt. Die Nationalidentität sollte untergraben werden.

Ende der 1980er Jahre waren Estland, Lettland und Litauen weiterhin Teile der Sowjetunion, doch strebten sie verstärkt ihre Unabhängigkeit an. Der Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes spiele dabei eine besondere Rolle. Denn durch die Veröffentlichung des archivierten Dokuments sollte endlich gezeigt werden, dass es sich um eine Annexion gehandelt hatte – und somit gegen das Völkerrecht verstoßen worden war.

Der Beginn der Unabhängigkeitsbewegung

Als Beginn der neuen Unabhängigkeits- und Demokratiebestrebungen der drei baltischen Staaten gilt jedoch ein anderes Ereignis. Dieses ging von der Sowjetunion aus: 1985 verkündete Michail Gorbatschow seinen neuen Reformkurs, Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umbau). Zum ersten Mal seit Jahrzehnten gründeten sich ähnlich wie in der DDR auch in Litauen, Estland und Lettland Oppositionsbewegungen.

Zunächst nahm sich die Opposition vor allem ökologischer Probleme an. Sie demonstrierte beispielsweise gegen den Phosphatabbau in Estland und Ausbau der Hydroenergie an der Düna in Lettland. Ab 1987 gab es zudem Proteste gegen Großbauprojekte und anlässlich historischer Gedenktage. Neben lokalen Oppositiongruppen gründeten sich sogenannte Volksfronten, die als eine Art Dachverband agierten und die einzelnen Gruppen zusammenfassten.

Die „Singende Revolution“

Wenn in Deutschland von der „Friedlichen Revolution“ die Rede ist, dann ist das baltische Pendant dazu die „Singende Revolution“. Das Singen nationaler und patriotischer Lieder war weiterhin verboten. Doch es gab zunehmend Bestrebungen, das eigene Kulturgut wieder ausleben zu lassen. Kultur und Unabhängigkeitsbewegung verbanden sich, als sich im Sommer 1988 Hunderttausende Menschen zu einem Sängerfest in Estlands Hauptstadt Tallinn tragen. Bewusst sangen sie dort auch für ihre Einigkeit und Unabhängigkeit. Deshalb hat die Unabhängigkeitsbewegung im Baltikum bis heute den Beinamen „Singende Revolution“.

Der 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes fiel in diese Zeit der aufkommenden Unabhängigkeitsbewegung. Für diesen plante man relativ spontan – wohl erst im Juli 1989 – ein länderübergreifende Aktion. Mit dieser wollte man demonstrieren, dass die baltischen Länder als einzige Länder in Europa ihre Autonomie nicht wiedergewonnen hatten.

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Der Baltische Weg in Litauen; Foto: Rimantas Lazdynas/ GNU 1.2.

Aus diesem Gedanken heraus entstand der „Baltische Weg“. Über 600 Kilometer lang, durch drei Länder, ungefähr zwei Millionen Teilnehmende. 23. August 1989 verband eine Menschenkette entlang der „Via Baltica“, einer Fernstraße durchs Baltikum, die drei Hauptstädte.

„Der Hitler-Stalin-Pakt ist nach wie vor die Grundlage, auf der sich das heutige Europa stützt, das Europa, zu dem auch wir einst gehörten“, hieß es in dem offiziellen Demonstrationsaufruf. Es war die bis zu diesem Zeitpunkt größte systemkritische Demonstration innerhalb der Sowjetunion. Und sie machte die baltische Unabhängigkeitsbestrebung mit einem Schlag in der Welt bekannt.

Der Weg in die Unabhängigkeit

1990 wurde zum Wendejahr für die drei baltischen Staaten. Wie auch in der DDR fanden dort zum ersten Mal seit Jahrzehnten freie Wahlen zu einem demokratischen Parlament statt. Und in allen drei Ländern erhielten Kandidat:innen die meisten Stimmen, die die Unabhängigkeit von der Sowjetunion forderten.

Als erstes baltisches Land erklärte Litauen am 11. März 1990 seine Unabhängigkeit von der Sowjetunion. Am 4. Mai 1990 folgte Lettland, am 8. Mai 1990 Estland. Nach 50 Jahren waren die Staaten de facto wieder autonom.

Völlig friedlich lief dieser Prozess aber doch nicht ab. Bald verhängte die Regierung der Sowjetunion Wirtschaftsblockaden und drohte mit einer militärischen Intervention. Im Januar 1991 kam es auf den Straßen von Vilnius und Riga zu blutigen Auseinandersetzungen.

Erst der erfolglose Putsch gegen Gorbatschow im August 1991 führte zu einem Ende der Streitigkeiten. Die baltischen Staaten nutzten die Situation, um ihre ein Jahr zuvor verkündete Unabhängigkeit endgültig durchzusetzen. Im selben Monat erkannte die Europäische Union ihre Autonomie an. Einen Monat später erfolgte die Anerkennung durch den Staatsrat der UdSSR.

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Monument in Vilnius (Litauen), Foto:

Und heute?

Die jahrzehntelange Besatzung hat in den drei Ländern Spuren hinterlassen. Da wären zum Beispiel die russischen Siedler:innen, die oft bis heute nicht integriert sind. In manchen Fällen haben sie weder die russische Staatsbürgerschaft, noch die des Landes, in der sie leben.

Auch das Verhältnis zu Russland selbst ist gespannt. Zuerst die Außenpolitik, dann der Angriffskrieg gegen die Ukraine werden als Bedrohung empfunden. Denn die russische Minderheit beträgt in Litauen etwa fünf Prozent, in Estland etwa 25 Prozent und in Lettland sogar 30 Prozent. Die Furcht, dass eine russische Invasion bevorstehen könnte, die durch den „Schutz der Minderheit“ begründet werden könnte, ist da.

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Über uns 
Annalena B. arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. als Projektkoordinatorin im Bereich Demokratiegeschichte.

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