Demokratiegeschichten

Die „Entdeckung“ der Verantwortung?!

Stellen Sie sich bitte einmal die Frage, was Sie unter politischer Verantwortung verstehen. Gar nicht so leicht, oder? Beim Begriff der Verantwortung handelt es sich um ein Wort, das in der Politik inzwischen allgegenwärtig geworden ist. Oft benutzt man es in einem negativen Sinn. Im Regelfall wirft man anderen vor, dass sie verantwortungslos handeln. Oder dass sie die Verantwortung für ihr Verhalten oder Handeln übernehmen sollen. Selten liest man aber auch davon, dass bestimmte Politiker oder Parteien gerne Verantwortung übernehmen wollen. Entweder wenn sie selbst in der Opposition sind oder wenn sie mit pathetischen Worten ihre Politik damit erklären, dass sie diese Politik aus Verantwortung gegenüber dem Staat und der Gesellschaft verfolgen.

Wichtig ist dabei aber festzuhalten, dass dieser heute so wichtige Begriff eine verhältnismäßig kurze Geschichte aufweist. Diese ist aber dennoch entscheidend für die deutsche Demokratiegeschichte. Von dem Weg, wie dieser Begriff so zentral wurde und warum Verantwortung und Demokratie so eng miteinander zusammenhängen, möchte ich im Folgenden erzählen.

Verantwortung – Der Ursprung

Klären wir also: Was ist denn Verantwortung im politischen Sinne? Was bedeutet Verantwortung denn überhaupt? Die Idee einer allgemeinen oder persönlichen Verantwortung, der responsibilitas, stammt schon aus der Antike. Hier bedeutete sie aber nur, Verantwortung für eine Tat zu haben. Sie kam also nicht aus der Politik, sondern aus der Rechtsprechung. Das gleiche gilt auch für das deutsche Wort Verantwortung. War jemand verantwortlich für seine Tat, bzw. konnte er dafür verantwortlich gemacht werden? War die Person geistig in der Lage, die Verantwortung für die Handlung zu übernehmen?

Das waren die Bedeutungen, die man im 19. Jahrhundert oder auch am Anfang des 20. Jahrhunderts in deutschen Wörterbüchern und Lexika finden konnte. Sie sehen, dass hier noch ein wesentlicher Teil unseres heutigen Verständnisses fehlt. Aber eine Sache kann man auch hier schon erkennen: Gegenüber ähnlichen Begriffen wie der Pflicht oder der Notwendigkeit zeichnet sich die Verantwortung durch eine Besonderheit aus: Verantwortung ist weniger abstrakt. Man hat sie stets für etwas, das einem gehört oder woran man selbst Anteil hat.

Max Weber und sein Verständnis der Verantwortungsethik

Dies sollte sich im Wesentlichen erst mit dem Ende des Ersten Weltkriegs ändern. Im Januar 1919, also noch während der Revolution, hielt der berühmte Soziologe Max Weber in der Münchener Adalbertstraße einen Vortrag. Dieser sollte zu einem seiner bekanntesten Werke werden: der Vortrag „Politik als Beruf“. In diesem lesenswerten Text beschreibt Weber zwei der wesentlichen Antriebe, nach denen ein Politiker handeln könne: die Gesinnungsethik und die Verantwortungsethik. Im ersten Fall wird politisches Handeln von den inhaltlichen Überzeugungen geprägt, die Politiker haben. Im zweiten Fall, der Verantwortungsethik, wird Politik letztlich vom erwartbaren Resultat aus gedacht. Anders gesagt: Der Politiker wird von der Sorge um seine Verantwortung getrieben, die er durch seine Handlung auf sich nehmen wird. Da haben wir wieder dieses rechtliche Grundverständnis des Begriffs, aber es geht weit über das bisherige Denken hinaus, da es nun die Verantwortung tatsächlich mit dem Begriff einer Ethik verbindet.

Das mag man als sprachliche Spielerei abtun, aber immerhin war es Max Weber, der ursprünglich den Entwurf der Weimarer Reichsverfassung erstellen sollte. Bis man sich schließlich doch für den liberalen Politiker und Staatsrechtler Hugo Preuß entschied. Außerdem wurde dieser Vortrag nur wenige Wochen vor Beginn der Sitzungen der Weimarer Nationalversammlung gehalten.

Verantwortung und die Weimarer Republik

Mit diesem Vortrag Webers wurde gewissermaßen die Büchse der Pandora für weitere Entwicklungen geöffnet, die in den Jahren und Jahrzehnten und danach folgen sollten. Ab nun nahmen die Diskussionen über politische Verantwortung immer größeren Raum ein. Das hat natürlich auch mit der neuen Verfassung zu tun. In einer Monarchie wie dem Kaiserreich, an deren Regierung die Parlamentarier und damit indirekt auch das Volk nur bedingt teilhaben konnten, war die Idee einer Verantwortung für den Staat unerheblich. Man hatte vielleicht die Pflicht gegenüber dem Monarchen und dem Heimatland. Aber Verantwortung in diesem neuen Sinne hatte man in der Politik nicht. In einem Gemeinwesen wie einer Republik war das aber etwas anderes. Nun wurde aus Handlungen aus Pflicht und Notwendigkeit immer öfter Handeln aus Verantwortung.

Das Reden über Verantwortung im Weimarer Reichstag

Eine Art und Weise diesen Wandel zu verstehen, liegt darin, dass man sich einmal die Wortwahl der Politiker in dieser Zeit anschaut. Denn in Reden kann man normalerweise davon ausgehen, dass sie die benutzten Worte mit Absicht wählten. Vor einigen Jahren habe ich einmal Teile der Reichstagsdebatten in der Weimarer Republik daraufhin ausgewertet, ob und wie die Parlamentarier den Begriff der Verantwortung nutzten.

Dabei machte ich eine interessante Beobachtung: Während alle Parteien über Verantwortung sprachen, war es nur die Zentrumspartei, mit Abstrichen auch die SPD, die sagte, dass sie gerne Verantwortung übernehmen wollen. In allen anderen Fällen warfen sich die Parteien gegenseitig vor, dass sie ihrer Verantwortung nicht gerecht wurden. Oder dass sie von sich selbst sagten, man hätte ihnen die Verantwortung aufgedrängt. Nicht so beim Zentrum, welches von 1919 bis 1932 in jeder Reichsregierung saß. Auch die Sozialdemokratie sah die Angelegenheit anders. Nochmal: Alle Parteien benutzten den Begriff der Verantwortung, wenn auch in teils sehr unterschiedlicher Art und Weise.

Verantwortung, die SPD und das Zentrum

Der Grund für diese Sonderstellung der SPD und des Zentrums lag vor allem in der Zeit vor 1918. Schon in der Bismarck-Ära waren es das katholische Zentrum und die Sozialdemokratie gewesen, die als eine Art Staatsfeind stilisiert wurden. Im monarchisch-protestantisch geprägten Kaiserreich wurden sie als „Reichsfeinde“ misstrauisch beäugt. Die Katholiken hatten mit dem Papst eine moralische und religiöse Autorität, die außerhalb des Nationalstaats lag. Die Sozialdemokraten setzten sich auf Grundlage ihrer marxistischen Dogmen hingegen für weitreichende Reformen bis hin zu einem politischen Systemwechsel ein und galten für den konservativen Bismarck als Gefahr.

Auch wenn die Bekämpfung des Zentrums und der SPD scheiterte, mussten sich beide Parteien auf ihre eigene Art und Weise einen Platz im Parteiensystem und eine Mindestmenge an Respekt in der Politik erkämpfen. Beide standen – teils auch gegen besseres Wissen – für die Kriegsanstrengungen im Ersten Weltkrieg ein. Und beide übernahmen mit dem Beginn der Weimarer Republik Verantwortung im neuen Staat. Eine Reichsregierung, die nicht von einem Kanzler der SPD oder des Zentrums geführt wurde, blieb die Ausnahme.

Wilhelm Marx, Heinrich Brüning und ihre Haltung zur politischen Verantwortung

Gerade beim Zentrum lässt sich in der Rhetorik aber auch ein anderer Aspekt erkennen: Die Verbindung des Pathos mit der Idee der Verantwortung. Ein Teil der Strategie des Zentrums war es dabei, nicht nur über die eigene Verantwortung zu jammern. Sondern sich stolz zu zeigen, dass man diese trug. So nutzte Reichskanzler Wilhelm Marx im Februar 1924 eine Rede vor dem Reichstag, um deutlich zu machen, wie stolz er auf das Handeln der Reichsregierung sei. Sie habe nach der Krise des Jahres 1923 ihre Verantwortung gegenüber dem Staat und der Bevölkerung getragen.

Ganz anders Heinrich Brüning. Er war ab 1930 zwar Kanzler, konnte sich aber nicht darauf verlassen, dass seine Minderheitsregierung auch politische Projekte durchbekam. Vielmehr setzte er die anderen Parteien unter Druck, dass sie ihrer großen Verantwortung nicht gerecht werden können, wenn sie seine Regierung genau wie die Vorgängerregierungen scheitern lassen. Er knüpfte damit das Wohl der deutschen Republik an das Verantwortungsbewusstsein der Oppositionsparteien. Das eben dieser Reichskanzler Brüning den ersten Präsidialkabinetten vorstand und bis 1932 die Stellung des Reichstags immer weiter aushöhlte, entbehrt in der Rückschau nicht einer gewissen Ironie.

Politische Verantwortung in der Stunde Null

Ein Bekenntnis zur Verantwortung wurde auch nach 1945 zu einem der wichtigsten Inhalte der neuen Parteien im Westen, in der Union, der SPD und der FDP. Die Frage, ob man Verantwortung in der Nachkriegsgesellschaft tragen sollte, wurde gar nicht mehr gestellt. Im Laufe der Zeit erweiterte sich das Konzept der Verantwortung immer mehr. Auch die Friedens- und Umweltbewegung, aus der schließlich die Grünen hervorgehen sollten, konnte sich darauf berufen, ihrer Verantwortung gerecht zu werden.

Lehren aus der Geschichte der Verantwortung?!

Der Ruf nach Verantwortung ist sicher eines der notwendigen Kernanliegen eines demokratischen Systems. Es sind eben nicht „die da oben“, auf die man die Verantwortung für den Staat abwälzen kann. Eine Demokratie funktioniert nur dann, wenn sie tatsächlich von der Bevölkerung mitgetragen wird. Ernst-Wolfgang Böckenfördes berühmter Satz, dass eine Demokratie von Grundvoraussetzungen abhängt, die sie nicht selbst garantieren kann, bezieht sich insbesondere auch auf die Verantwortung, die man als Bürger einer Republik hat. Der berühmte Satz von John F. Kennedy aus seiner Amtseinführungsrede: „Fragt nicht, was euer Land für euch tun kann, aber fragt, was ihr für euer Land tun könnt“, geht in die gleiche Richtung. Je näher wir an unsere Zeit kommen, desto mehr Beispiele werden wir dafür finden.

Vielleicht ist aber gerade hier die Weimarer Republik ein gutes Beispiel für unsere heutige Zeit. Im Sinne davon, mit welcher Einstellung zur Verantwortung Politiker und auch wir selbst zu unserem Staat stehen. In diesen Monaten stellt die Corona-Pandemie die Demokratie auf eine Probe. Noch nie in der Geschichte unseres Landes seit dem letzten Weltkrieg haben wir eine derartige Krise erlebt. Sie hat das Leben von uns allen – wenn auch in unterschiedlichem Maße – maßgeblich verändert hat. Viele nehmen ihre Verantwortung dabei sehr ernst, in der Regierung und Opposition, aber auch in der Gesellschaft.

Aus der Geschichte der Weimarer Republik lässt sich aber eben auch erkennen, dass nicht alle, die auf die Straße gehen und protestieren oder an den politischen Rändern von Verantwortung schwadronieren, derselben gerecht werden. Vor diesem historischen Hintergrund zeigt es sich, dass eben diese Verantwortung für das Gemeinwesen, in jeder Nuance ihrer Bedeutung, auch in Zukunft unsere Aufgabe bleiben wird.

Artikel Drucken
Über uns 
Björn Höfer ist Mitglied von Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. und promoviert in St Andrews und Potsdam im Bereich "Politischer Katholizismus zwischen Weimar und Bonn".

0 Kommentare

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert