Demokratiegeschichten

Elly Heuss-Knapp und Theodor Heuss – Ein demokratisches Paar (II)

Teil 2: Demokratischer Wiederaufbau nach 1945

Als der amerikanische Leutnant John H. Boxer wenige Tage vor Kriegsende 1945 vor einem Haus in einem Heidelberger Vorort vorfährt, muss er zu seinem Ziel zunächst sprichwörtlich einige Hürden nehmen. Die Klingel zum Haus ist aufgrund des Stromausfalls in der ganzen Stadt nicht zu benutzen. Boxer klettert kurzerhand über den Zaun, mit ihm ein GI mit geladener Maschinenpistole.

Als sie am Haus klopfen, öffnet ihnen ein vom Krieg gezeichneter Mann, hager und ausgemergelt – Theodor Heuss, von den Amerikanern als „uncompromising democrat“ ausgemacht. Ihm möchte Boxer die Lizenz zur Herausgabe der geplanten Heidelberger Rhein-Neckar-Zeitung (RNZ) antragen. Am Schluss des zunächst mühsamen, dann jedoch immer offeneren Gesprächs zwischen beiden bittet Theodor Heuss seine Frau Elly, aus dem Keller eine Flasche guten Weins zu holen, um das Ende des Krieges zusammen zu feiern. Allein der GI in Begleitung traut der gelösten Stimmung und den beiden Deutschen nicht. Er warnt Leutnant Boxer: „Don’t drink this. This is poison.“

Neustart 1945

Wie viele solcher Szenen mögen sich wohl gegen Kriegsende 1945 abgespielt haben? Klar wird, dass Theodor Heuss von den Amerikanern zu einer Gruppe vormaliger Politiker und Publizisten gezählt wird, mit denen sich ein demokratischer Neubeginn in Deutschland wagen ließe. Ein gewisses Misstrauen von beiden Seiten bleibt jedoch vorerst: Während die Amerikaner zunächst intern Heuss‘ Integrität mit Blick auf seine Zeit im Nationalsozialismus verhandeln, zögert auch Heuss, die angebotene Herausgeberschaft der RNZ anzunehmen. Er, der selbst unter der Zeit des Nationalsozialismus gelitten hat, ist doch skeptisch gegenüber den neuen Besatzern. Heuss erlebt die unmittelbare Nachkriegszeit im Gefühl, mit dem Ende des Krieges zugleich befreit und vernichtet worden zu sein.

Schließlich willigt er jedoch ein, auch weil er sich in der Pflicht sieht, die deutsche Bevölkerung wieder an die Demokratie heranzuführen: „Die Deutschen müssen bei dem Wort Demokratie ganz vorn anfangen im Buchstabieren, auch wenn sie sich heute Demokraten nennen.” Und so widmet er sich in seinen Artikeln den aktuellen Herausforderungen der Besatzungszeit, der Bedeutung von staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten und der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Als er im September 1945 als „Kultminister“ Teil der provisorischen Regierung des neu gegründeten Landes Württemberg-Baden wird, bleibt er der RNZ treu und schreibt weiter Beiträge.

Umzug nach Stuttgart

Auch wenn seine Amtszeit als Kultminister bis November 1946 nur etwa ein Jahr währt, betreten Theodor Heuss und auch Elly Heuss-Knapp mit dem Umzug nach Stuttgart wieder die politische Bühne. Zusammen mit weiteren Gleichgesinnten bauen sie in der amerikanischen Besatzungszone die liberale Deutsche Volkspartei auf; Theodor Heuss wird nach deren Zusammenschluss mit der FDP später erster Vorsitzender der Partei. Im November 1946 ziehen beide in den Württemberg-Badischen Landtag ein. Obwohl Ell Heuss-Knapp gesundheitlich bereits stark eingeschränkt ist, brennt sie darauf, in den ihr vertrauten Feldern Fürsorge und Sozialpolitik erneut aktiv zu werden: „Betriebsrätegesetz, Neuordnung der Reichsversicherung, Arbeitsämter, Fürsorgeverordnung und ähnliches. Für mich sind lauter Fäden wieder aufzunehmen.“ Neben ihrem Landtagsmandat hält sie Vorträge, gestaltet Schulbücher und organisiert Bildungsveranstaltungen. Gleichzeitig hofft sie, nach dem intensiven, unmittelbaren Wiederaufbau politischer und sozialer Strukturen bald mit Theodor Heuss kürzer treten zu können.

Doch ihr Mann steuert gerade erst auf seine bedeutendste Rolle zu: Im September 1948 wird Theodor Heuss Mitglied des Parlamentarischen Rates, der eine neue deutsche Verfassung erarbeiten soll. Hier wird er insbesondere im Ausschuss für Grundsatzfragen aktiv und bringt so maßgebliche Entscheidungen wie den Namen der Bundesrepublik oder die Farben der Bundesflagge mit auf den Weg. Viele der im Grundgesetz verankerten Grundrechte, gerade auch die zugehörige Präambel, tragen am Ende seine Handschrift. Während seiner Arbeit im Parlamentarischen Rat zeigt sich zudem, dass Theodor Heuss über Parteigrenzen in hinweg vermitteln kann. So verwundert es nicht, dass er schließlich als geeigneter Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten gesehen wird. Adenauer überzeugt wohl auch der christliche Glauben Elly Heuss-Knapps, Heuss in seiner Kandidatur zu unterstützen. Im Gegenzug erhält er so die Unterstützung der FDP bei seiner eigenen Wahl zum Bundeskanzler.

Heuss wichtigstes Amt

Als Theodor Heuss am 12. September 1949 als erster Bundespräsident der Bundesrepublik vereidigt wird, sind zwar Eckpfeiler des Amtes im Grundgesetz festgelegt, nicht aber die Art und Weise, wie das neue Staatsoberhaupt seine Rolle ausfüllen sollte. So macht er sich das Amt zu Eigen und gestaltet es maßgeblich. Dabei scheut er traditionelle Anleihen nicht, grenzt aber das Amt gegen direkte Vorgänger wie Adolf Hitler und Paul von Hindenburg ab.

Heuss möchte die Bindung deutscher Bürger zum neuen demokratischen Staat über Symbole wie Orden oder eine neue Nationalhymne fördern. Zudem benennt er in seinen Reden klar die nationalsozialistischen Verbrechen, ohne jedoch daraus ein allgemeines Schuldeingeständnis abzuleiten. Mit seiner volksnahen und bodenständigen Art entwickelt er sich zu einem politischen Erzieher, der die Demokratisierung der deutschen Bevölkerung befördern will. Er selbst hat sich immer wieder gegen die Verniedlichung als „Repräsentationsonkel“ gewehrt. Doch gerade in seiner zweiten Amtszeit wird ihm immer mehr der Kosename Papa Heuss angetragen.

Papa Heuss

Mit seiner väterlichen Art bietet Heuss einen positiven Bezugspunkt für die Orientierung und Stabilität suchende Nachkriegsgesellschaft. Seine zivil-bürgerliche Verortung war gleichzeitig eine demokratische Traditionslinie zurück, über die Weimarer Zeit hinaus bis ins Kaiserreich und die 1848er Revolution seiner Vorfahren. In seinem demokratischen Verständnis bleibt Heuss jedoch ambivalent. Zwar ist er für einen umfassenden parlamentarischen und pluralistischen Neubeginn, kann jedoch demokratischen Praktiken wie etwa Demonstrationen wenig abgewinnen. Letzten Endes erscheint seine Vorstellung, dass die Demokratie vor allem durch Institutionen gestärkt wird, aus heutiger Sicht befremdlich. Für die Zeit nach 1945 war diese Sicht wohlmöglich aber ein konsolidierendes, versöhnliches Element in einer durch den Obrigkeitsstaat geprägten Gesellschaft.

Im Gegensatz zur anderen Vaterfigur der Nachkriegszeit, Bundeskanzler Konrad Adenauer, repräsentiert Theodor Heuss zudem das ‚andere Deutschland‘, die deutschen Kultur- und Bildungstraditionen. Vor allem bei seinen Auslandsbesuchen kann er so Vertrauen wiedergewinnen und Fäden neu aufnehmen, die im Nationalsozialismus zerstört worden waren. Innenpolitisch versucht er ebenfalls zu versöhnen und überparteilich zu integrieren. Gerade dort, wo Adenauers Kurs der Westbindung und die deutsch-deutsche Teilung die Gesellschaft zu spalten drohen.

Gründung des Deutschen Müttergenesungswerks

Als Theodor Heuss für das Amt des Bundespräsidenten gemeinsam mit Elly Heuss-Knapp nach Bonn umzieht, hat sich ihr gesundheitlicher Zustand weiter verschlechtert. Trotzdem weiß sie ihre Stärken und Erfahrungen noch einmal bewusst als erste First Lady einzusetzen. Im Januar 1950 initiiert sie das Deutsche Müttergenesungswerk, welches erschöpften Müttern durch Kuraufenthalte Entlastung bietet.

Elly Heuss-Knapp verknüpft damit frauen- und familienpolitische Anliegen, dabei arbeitet sie, trotz ihrer eigenen christlichen Einstellung, mit diesem Werk überkonfessionell und überparteilich: Das Deutsche Müttergenesungswerk bietet als Dachorganisation ein Forum der gemeinsamen Arbeit für kirchliche, parteinahe und paritätische Träger.

In diesem letzten großen Projekt laufen noch einmal alle Fäden aus Elly Heuss-Knapps politischem und beruflichem Schaffen zusammen. Die bei der Sammlung von Spenden verteilten Ansteckblümchen sind durch Flüchtlingsfamilien in Heimarbeit entstanden. In der breiten Werbekampagne der ersten Spendensammlung rund um den Muttertag 1950 bringt sie ihre Erfahrung aus der Werbearbeit ein. So kommt schließlich die unglaubliche Summe von 2,5 Millionen DM an Spenden zusammen.

Tod von Elly Heuss-Knapp

Mit Elly Heuss-Knapps Tod am 19. Juli 1952 endet schließlich eine partnerschaftliche Ehe, die sich durch gegenseitige Zuneigung und Unterstützung in ihren verschiedenen Schaffensphasen auszeichnete. Nur ein Jahr zuvor, zum 70. Geburtstag seiner Frau, hat Heuss diese Partnerschaft in einem selbstverfassten Gedicht gewürdigt:

„Wie im Nehmen, so im Geben

Galt das schöne Gleichgewicht

Als Gesetz für unser Leben

‚Einer war des andern Licht.“

Bundesarchiv, Bundespräsidialamt, Amtszeit Heuss, B 122, 202, Gedicht von Theodor Heuss für Elly Heuss-Knapp, 25.1.1951.

Die Selbstverständlichkeit, mit der sich beide Partner unterstützten, bleibt auch über Elly Tod hinaus bestehen: Theodor Heuss übernimmt die Schirmherrschaft für das Müttergenesungswerk, um dessen Erhalt zu sichern – ein Ehrenamt, das bis heute jede First Lady weiterführt. Er selbst hinterlässt nach seinem Tod am 12. Dezember 1963 ein Amtsverständnis, das ebenfalls bis heute weiterwirkt: überparteilich und um Aufklärung bemüht, distanziert vom politischen Tagesgeschäft und allen Bürgerinnen und Bürgern zugewandt.

Weiterführende Literatur

  • Theodor Heuss: Rede „Um Deutschlands Zukunft“ (18. 3. 1946), in: Theodor Heuss: Aufzeichnungen 1945-1947, Stuttgart 1966
  • Ulrike Strerath-Bolz: Elly Heuss-Knapp. Wie die First Lady ihr Herz für Mütter entdeckte, Berlin 2012
  • Theodor Heuss: Der Bundespräsident. Briefe 1949–1954, Hrsg. und bearb. von Ernst Wolfgang Becker, Martin Vogt und Wolfram Werner. Berlin/Boston 2012

Maike Hausen ist Historikerin und betreute bis Mai 2021 bei der Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus das Projekt „100 Köpfe der Demokratie“.

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