Dr. Peter Lautzas ist Historiker, war von 2002-2012 Bundesvorsitzender des Verbands der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD) und ist seit 2015 Vorsitzender des Stadthistorischen Museums Mainz.
Gedenktage sind Spiegelbilder der eigenen Werthaltung, staatliche Gedenktage die einer Nation. Anhand historischer Gedenk- und Feiertage wird deutlich, welches Bild eine Nation von sich selbst und ihrer Geschichte hat. Im Zentrum steht dabei die Deutung historischer Zusammenhänge aus einer aktuellen Perspektive. Öffentliche Wahrnehmung und Faktizität müssen sich daher nicht immer vollständig decken. Nationale Gedenktage sind also Teil der Geschichtspolitik eines Staates, die meist von großen Teilen der Bevölkerung mitgetragen wird. Sie dient der nationalen Identitätsstiftung.
Gedenktage erfüllen also eine wichtige Aufgabe in einer Gesellschaft. Sie veranlassen uns zur Besinnung auf für unser Leben prägende Ereignisse und Personen aus der Vergangenheit und rufen uns damit die Werte und Grundüberzeugungen in Erinnerung, nach denen wir leben wollen und die die Grundlage unseres Gemeinwesens darstellen.
Angesichts der in Deutschland immer wieder aufbrechenden Frage nach einem historisch verankerten, gegenwartsrelevanten und zukunftsfähigen Gedenktag kann zunächst festgestellt werden, dass eine nicht geringe Zahl von historisch-politischen Gedenktagen unterschiedlicher Ausprägung und Reichweite bereits existiert, die auf ihre Tauglichkeit für ein kollektives Gedächtnis und eine gesamtgesellschaftliche Erinnerungskultur geprüft werden kann.
Verschwundene und regionale Gedenktage
Ausgangspunkt, wenn auch nicht Vorbild angesichts der militaristischen und wenig demokratischen Vergangenheit ist der Reichsgründungstag am 18. Januar, der 1871 immerhin den ersten deutschen Gesamtstaat schuf. Er wird heute nur noch von historisch Interessierten zur Kenntnis genommen, spielt im kollektiven Bewusstsein aber keine Rolle mehr.
Gänzlich verschwunden in der Erinnerungskultur sind seit 1990 die staatlichen Gedenktage der DDR: vor allem der Nationalfeiertag des 7. Oktober, der an die Staatsgründung 1949 erinnerte, und der Weltfriedenstag des 1. September, der seit den 50er Jahren als Antikriegstag an den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges 1939 erinnerte. Zunehmend gibt es eine Reihe regionaler und lokaler Gedenktage, die sich alle auf den letzten Krieg und seine Folgen beziehen. So ist etwa der zweite Sonntag im September als Gedenktag für die Opfer von Flucht, Vertreibung und Deportation seit 2014 in Bayern, Hessen und Sachsen dem Gedächtnis dieser Kriegsopfer gewidmet. Viele lokale Gedenktage erinnern an die Schrecken des Zweiten Weltkrieges, wie z.B. der 13. Februar an den verheerenden Luftangriff auf Dresden und der 27. Februar an den auf Mainz.
Gedenktage einzelner Bevölkerungsgruppen
Auch einzelne Gruppen der Bevölkerung haben eigene Gedenktage, so etwa an dem genannten zweiten Sonntag im September der Tag der Heimat des Bundes der Vertriebenen seit 1949. Bundesweit findet seit 2015 am 20. Juni jeden Jahres zeitgleich mit dem Weltflüchtlingstag ein Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung, insbesondere der deutschen Vertriebenen, statt. Von der Öffentlichkeit weniger beachtet findet am 19. Dezember bereits seit 1979 ein offizieller Gedenktag für die Opfer des Völkermordes an den Sinti und Roma statt.
Gedenktage im öffentlichen Bewusstsein
Gesamtpolitische Relevanz für die Bundesrepublik mit breiter gesellschaftlicher Akzeptanz und Aufmerksamkeit haben nun aber die folgenden Gedenktage. Wird der 8. Mai, Tag der Kapitulation der deutschen Wehrmacht, international als Tag der Befreiung seit der mutigen Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker im Jahre 1985 in Deutschland wenigstens gewürdigt, so sind der 23. Mai als Tag des Grundgesetzes im Jahre 1949 und der 7. September als Gedenktag der Konstituierung des ersten Deutschen Bundestages 1949 zwar im öffentlichen Bewusstsein, konnten aber trotz ihrer Bedeutung nicht den Charakter eines zentralen Gedenktages erringen.
Am Rande steht auch der 2003 geschaffene Deutsch-Französische Tag am 22. Januar, Jahrestag des für die Bundesrepublik bedeutsamen Elyseé-Vertrages von 1963. Größere Aufmerksamkeit und Anteilnahme wird dem 1966 festgelegten Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar (Foto der Befreiung von Auschwitz) entgegengebracht, der im Rahmen des Internationalen Tages des Gedenkens an die Opfer des Holocaust begangen wird. Als staatlich verordneter Gedenktag findet ab 1952 der Volkstrauertag am zweiten Sonntag vor dem ersten Advent statt.
9. November: Der „Schicksalstag der Deutschen“
Öffentliche Aufmerksamkeit findet jährlich der 9. November als ein Tag mehrfacher historischer Ereignisse von Relevanz:
- Im Vordergrund steht das Gedenken an die Reichspogromnacht 1938,
- gefolgt vom Mauerfall 1989, der das Gedenken an die Errichtung der Mauer am 13. August 1981 abgelöst hat.
- Wenigen ist dagegen die Ausrufung der ersten deutschen Republik durch Philipp Scheidemann 1918 im Bewusstsein.
Eine Frage der (deutschen) Identität
Von erheblich größerer Reichweite war lange Jahre nach dem Krieg der 20. Juli als Erinnerungstag an das Attentat auf Hitler.
Es wurde als Kern des deutschen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus geradezu zum Mythos hochstilisiert und diente, – fragwürdig, wie wir heute wissen -, einer Widerlegung der Kollektivschuldthese sowie dem Versuch, eine neue Identität in einer Tradition der Freiheit zu stiften. Nach dem Untergang der DDR wurde dann im Jahr 1990 der 3. Oktober als Tag der Deutschen Einheit zum heutigen Nationalfeiertag.
Er löste den 17. Juni, dem Tag des Aufstandes gegen das DDR-Regime 1953, als nationalen Feiertag und staatlichen Erinnerungsmythos ab.
Wie aus dieser Zusammenstellung ersichtlich wird, gab es in all den Jahren ein immer neu ansetzendes Bemühen, die deutsche Identität nach dem Zweiten Weltkrieg und ab 1990 unter Einschluss des anderen Deutschland in der DDR überzeugend, griffig und langfristig gültig in einem staatlichen Gedenk- und Erinnerungstag, d.h. in einem Nationalfeiertag zu fassen.
Es fällt auf, dass sich fast alle Versuche und Ansätze auf den Zweiten Weltkrieg und seine Folgen, also ex negativo in Abgrenzung zu verursachtem und erlittenem Unrecht und Leid beziehen. Der 3. Oktober, wiewohl ein markanter und erfreulicher Einschnitt in der deutschen Geschichte, hat den Charakter einer Momentaufnahme, die zunehmend verblassen wird und die keine werthaltige historische Tiefe aufweist.
Ein Feiertag in der Tradition der Demokratie
Die Frage bleibt also immer noch bestehen: In welcher Tradition sehen wir uns? Doch wohl zweifellos in der der Demokratie! Eine Traditionslinie nun, die tief in die Vergangenheit reicht, unsere Werthaltung überzeugend widerspiegelt und auch tragfähig für die Zukunft ist und bleiben soll, verbindet sich mit dem Datum des 18. März, wie ihn der ehemalige Bundestagspräsident Norbert Lammert favorisierte:
- Am 18. März 1793 gründete sich die Mainzer Republik als erster Demokratie-Versuch in Deutschland.
- Am 18. März 1848 wurden im Volksaufstand in Berlin die sog. Märzforderungen laut, die zum ersten frei gewählten Parlament in der Paulskirche führen sollten.
- Am 18. März 1990 fanden schließlich nach der friedlichen Revolution der Bevölkerung die ersten freien Wahlen zur Volkskammer der DDR statt.
Mit dem 18. März ergibt sich also eine bemerkenswerte Traditionslinie der deutschen Geschichte, die die historischen Linien des Nationalstaats Deutschland zusammenführt, vor allem aber die die Frage der nationalen Identität positiv beantwortet und damit zukunftsweisend als neuer Nationalfeiertag in Betracht gezogen werden sollte.
4 Kommentare
Peter Brunner
18. März 2021 - 15:15Das ist ein guter und wichtiger Hinweis auf den 18. März, aber gerade mit seiner Einführung bleibe jedenfalls mir erneut die Unzufriedenheit darüber, den 9. November zu ignorieren. Der ist übrigens auch noch der Todestag von Robert Blum und insofern auch an die 48er-Geschichte angebunden.
Für mich ist und bleibt der 9. November DER Tag der deutschen Geschichte.
Peter Lautzas
19. März 2021 - 10:17Zweifellos ist der 9. November ein wichtiges Datum der deutschen Geschichte, aber leider weitgehend negativ besetzt bzw. rückwärts gewandt und punktuell auf die Wiedervereinigung bezogen. Wir brauchen einen Nationalfeiertag, der unsere Grundwerte deutlich, offensiv und zukunftsfähig-dauerhaft zum Ausdruck bringt.
Dr. Christoph Hamann
28. März 2021 - 13:33Die Aktion 18. März freut sich, dass Peter Lautzas den 18. März als nationalen Gedenktag vorschlägt. Sie fordert dies seit 1978 – damals in beiden deutschen Staaten. In der DDR zu Lasten des 7. Oktober, in der Bundesrepublik zu Lasten des 17. Juni. Auch der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat sich für den 18. März ausgesprochen.
Die Aktion 18. März führt jedes Jahr am 18. März am Brandenburger Tor eine Gedenkveranstaltung durch, mit Rednern aus allen demokratischen Parteien und immer einem internationalen Gast. Gemeinsam mit dem Paul Singer Verein organisiert sie auch auf dem Friedhof der Märzgefallenen eine Veranstaltung und gibt zudem jedes Jahr zum 18. März eine März-Zeitung heraus.
Volker Schröder
29. März 2021 - 21:36Ein wunderbarer Vorschlag, Peter Lautzas! Im Rahmen der „Aktion 18. März“ kämpfe ich für den Gedenk-/Feiertag 18. März. Durch die NS-Zeit ist die „deutsche Seele“ beschädigt. Mit einem Bekenntnis zu den Werten der 48er Revolution könnte sie geheilt werden. Es muss uns gelingen, den Geist der Märzrevolution und des Völkerfrühlings in die Herzen und Köpfe der Menschen zu tragen.