Demokratiegeschichten

Wolfgang Thierse – Der Vater Courage der Demokratie

Leider stammt der Begriff „Vater Courage“ nicht von mir. Den haben die Jusos schon 2010 für Wolfang Thierse geprägt. Damals nahm Thierse als Bundestagsvizepräsident an einer Sitzblockade gegen einen Neonazi-Aufmarsch teil.

Thierse kann nerven, ohne Frage. Aber er ist einer der wenigen Querköpfe und Gegen-den-Strom-Schwimmer, die wir haben. Und die jede Gesellschaft dringend braucht, um Festgefahrenes in Frage zu stellen. Was treibt einen Menschen wie Wolfgang Thierse an?

Kindheit und Jugend in Thüringen

Zur Welt kommt Wolfgang Thierse im Oktober 1943 im schlesischen Breslau. Nach der Vertreibung aus Breslau siedelte sich die Familie im thüringischen Eisfeld in der damaligen sowjetisch besetzten Zone, der späteren DDR an. Dort besuchte Thierse die Oberschule. Nach dem Abitur im thüringischen Hildburghausen darf er aus politischen Gründen zunächst nicht studieren. Er erlernte den Beruf des Schriftsetzers beim Thüringer Tageblatt in Weimar. Erst 1964 beginnt er in Berlin ein Studium der Germanistik.

Die DDR und das Gefühl des Alleingelassenseins

Von seinem Vater übernimmt Thierse das Gefühl des: Wir sind allein, uns hilft niemand. Die Erfahrungen von Ungarn und Polen 1956, des Mauerbaus 1961 und des Prager Frühlings 1968 bedrücken ihn. Es ist die wiederkehrende Folge von Hoffnung und schmerzlicher Niederlage. Das Grundgefühl, niemand hilft uns.

Sein Vater, ein Adenauersympathisant, ist enttäuscht vom Bundeskanzler, der Reden über die Brüder und Schwestern in der Sowjetzone hält, aber nichts tut. Als er Abitur macht, wird die Mauer gebaut. Thierse beschreibt es als ein schier unerträgliches Gefühl des Eingesperrtseins. Es prägt ihn für sein ganzes Leben. Schon früh wird ihm bewusst, dass es langfristig nicht ohne Reformen geht.

Interessenvertreter Thierse

Durch das Leben von Wolfgang Thierse zieht sich ein Grundmuster – das des Sprechers. Schon im fünften Schuljahr wird er von seinen Klassenkameradinnen und -kameraden als Sprecher gewählt. Das hieß jedoch Mitgliedschaft in der staatlich gelenkten Pionierorganisation. Als der Lehrer entdeckt, dass Wolfang gar kein Mitglied der Pioniere ist und das Amt nicht übernehmen kann, ist er getroffen. Mit der Begründung, dass er das Vertrauen seiner Schulkameradinnen und -kameraden hat, ermuntert sein Vater ihn zum Eintritt in die Pioniere. Später tritt Thierse auch in die FDJ ein. Ihm ist bewusst, dass er Interessen nur dann vertreten kann, wenn er in den staatlichen Organisationen mitmacht. Und so folgt ein Sprecheramt auf das nächste. Immer wieder wird Thierse zum Vertreter der Interessen der anderen gemacht.

Thierse erinnert sich in einem Interview:

„ … offensichtlich, weil sie den Eindruck hatten, ich habe nicht nur ein größeres Mundwerk, sondern ich hab auch weniger Angst. Und da habe ich immer gedacht, ja, das kann ich doch ernst nehmen. Da es keine andere Form gibt, in der man das tun kann – studentische Interessen vertreten –, kann ich das auch machen. Ich habe mir da auch eine gewisse Freiheit und Souveränität erkämpft. Manche haben mich auch kritisiert, […]  ich mache keinen ideologischen Quatsch. Ich versuche, Interessen zu vertreten.“

Später wird Thierse von höheren Funktionären gebeten, nicht mehr zu den Sitzungen zu kommen. Sie wussten, dass er widerspricht und debattiert.

Eine Abfolge von Minderheitserfahrungen

Prägend bleibt für ihn die Minderheitenerfahrung. Mitten in Thüringen sprach die Familie strikt Hochdeutsch. Alle waren evangelisch, seine Familie katholisch. Als Jugendlicher entschied er sich  gegen die Jugendweihe und für die Firmung; wohl wissend, dass es seinem beruflichen Fortkommen schaden würde. Auch später gehörte er als bekennender Katholik immer zur Minderheit in der DDR. In seiner beruflichen Laufbahn war er einer der wenigen Nicht-SED-Genossen, als fast alle Mitglieder der SED waren. Seinem Vater verdankt Thierse, dass er damit nicht unglücklich geworden ist:

Mein Vater hat uns immer gesagt, wenn alle anderen etwas sagen, meinen, tun, muss es noch lange nicht richtig sein. Du selber musst davon überzeugt sein, dann kannst du es machen. Und wenn du es nicht bist, dann tu es auch nicht.

Wolfgang Thierse in einem Deutschlandfunkinterview vom 24.4.2014

Entlassung wegen Verweigerung

Thierse nimmt 1964 ein Studium der Germanistik und der Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin auf, das er 1969 mit dem Diplom beendet. Mit etwas Glück bekommt er 1975 eine Stelle im Ministerium für Kultur der DDR. Er ist in der Abteilung Bildende Kunst tätig.

Nach anderthalb Jahren wird er von heute auf morgen entlassen. Wolfgang Thierse hatte sich geweigert eine Erklärung zu unterzeichnen, mit der er die Ausbürgerung des regiemekritischen Liedermachers Wolf Biermann befürworten sollte. Er weigert sich auch zu Künstlern zu gehen und Erklärungen unterschreiben zu lassen oder andernfalls Berichte über sie zu verfassen. Thierse hält dieses Vorgehen des Staates für eine falsche Entscheidung und sagt es auch offen. Entlassen wird er mit einer Beurteilung, die ihn mehr oder weniger als Staatsfeind dastehen lässt.

Der hinhaltende Widerstand des Wolfgang Thierse

Zwei Jahre später bekommt Wolfgang Thierse eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut für Literaturgeschichte an der Akademie der Wissenschaften der DDR. Am Institut ist er gerade mal geduldet. Einer der wenigen ohne Parteibuch, aber mit aktiver Kirchenzugehörigkeit.

Thierse lebt einen eigenen, einen hinhaltenden Widerstand. Nicht mit der Waffe in der Hand, aber ohne Zugeständnisse.  Er verzichtet auf vieles, was einem Leben – zumal dem eines Wissenschaftlers – Glanz und Erfüllung geben kann. Er war nicht bereit, der DDR etwas zu schenken an Zugeständnis. Noch im Oktober 1989, im Herbst der Friedlichen Revolution in der DDR, tritt er in die neugegründete Bürgerbewegung Neues Forum ein.

Aufbruch zu neuen Ufern nach dem 9. November 1989

21.4.1990, Berlin: Wolfgang Thierse, SPD, Mitglied der Volkskammer. Foto: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0421-300 / Schöps, Elke / CC-BY-SA 3.0

Kaum war 1989 die Mauer gefallen, gab es für Wolfgang Thierse kein Halten mehr. Sein Herz schlägt für die Politik Willy Brandts und die SPD. Anfang Januar 1990 wird Thierse Mitglied der Sozialdemokratischen Partei der DDR (SDP). Nach dem Rücktritt von Ibrahim Böhme wird Thierse am 9. Juni 1990 auf einem Sonderparteitag zum Vorsitzenden der SPD der DDR gewählt.

Dann geht es Schlag auf Schlag. Von 1990 bis 2013 ist Wolfgang Thierse Mitglied des Deutschen Bundestages. 1998 bis 2005 hat er das Amt des Präsidenten des Deutschen Bundestages inne und von 2005 bis 2013 das des Vizepräsidenten. Zu seinem 70. Geburtstag scheidet er aus der Politik aus.

Der Moralist Thierse

Nicht nur in der CDU auch in der Öffentlichkeit ist Thierse als Moralist bekannt und mitunter verschrien. Moralisten werden in der Politik und in der Gesellschaft selten geliebt. Seine moralischen Züge seien eine Prägung aus DDR-Zeiten, glaubt Thierse:

„Wenn man täglich jede Entscheidung moralisch vor sich begründen muss, prägt es auch die eigene Sprache und die Art und Weise, wie man sich öffentlich zeigt. […] Ein ständiges Überlegen: wozu sagt man ja, wozu nein und wozu schweigt man. Es waren politisch-moralische Entscheidungssituationen ganz alltäglicher Art. Es geht nicht um Märtyrer- oder Heldengeschichten, sondern lediglich darum, wie folgt man seinem eigenen Maßstab von Anstand. Und wie verrät man nicht seine Intelligenz.“

Wolfgang Thierse, Politiker, WDR 5, Erlebte Geschichten. 10.11.2019.

Diese Erfahrung machten in der DDR neben Wolfgang Thierse viele tausend Menschen.

Wolfgang Thierse im Kampf für die Demokratie

„Ich finde, das Amt des Bundestagspräsidenten ist das schönste, das diese Bundesrepublik zu bieten hat“, sagt Thierse. Man sei nah bei der Politik, mische aktiv mit, müsse aber nicht jeden politischen Winkelzug mitmachen und stehe für das Ganze der Demokratie ein.

Thierse entscheidet sich in seiner Amtszeit auch nah beim Volk zu sein und ein rares Gut, Aufmerksamkeit und Wertschätzung, zu verteilen. Wolfang Thierse engagierte sich schon gegen Rechtsextremismus, als die braune Gefahr noch abgetan wurde und der Staat noch keine Bündnisse gegen rechts initiierte. In seiner Amtszeit fährt er durchs Land, besucht Demokratieinitiativen, Initiativen gegen rechts und Opfer rechter Übergriffe. Thierse sieht schon in den 1990er Jahre die Gefahr aus dem rechten Spektrum. Dafür wird er beschimpft, vor allem von CDU Politikern und Bürgermeistern, die ihm Nestbeschmutzung vorwerfen. Ein Problem mit Rechtsextremismus gebe es nicht.

Was Wolfgang Thierse antreibt ist der Eindruck der rassistisch motivierten Brandanschläge in den 1990er Jahren wie Rostock und Mölln, die ihn tief erschrecken. Das dürfe seiner Meinung nach nicht der Preis der Einheit sein. Dagegen müsse man etwas tun.

Sitzblockade gegen rechts

Am 1. Mai 2010 schließt sich der Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse einem Sitzblock gegen einen Aufmarsch von Neonazis an. Dafür war er nicht nur von der Union, sondern auch von Parteifreunden kritisiert worden. Thierse selbst verteidigt seine Aktion damit, er habe als Bundestagsvizepräsident die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten wie alle anderen auch. Aus Reihen der Politik wird ihm vorgeworfen, er habe die Würde seines Amtes verletzt. Er wird als Schädling der Demokratie entlarvt und Rücktrittsforderungen gegen ihn werden laut. Doch die Jusos halten ihm die Stange, rufen ihn zum „Vater Courage“ aus und ehren ihn mit den Worten „Wir sind Thierse“.

Sicherlich: Der Neonazi-Aufmarsch war behördlich genehmigt. Und eine Demokratie muss auch Andersdenkende aushalten können. Aber es steht auch nirgends geschrieben, dass man nicht dagegen gewaltlos protestieren darf. Thierse muss man zubilligen, dass er sich an das hielt, was er selbst predigte: Dass man den öffentlichen Raum nicht den Extremisten überlassen darf.

Zivilcourage – Wer Courage zeigt, muss mit Unbill rechnen.

Nicht immer ist die Vorbildhaftigkeit eines Handelns schon im Augenblick selbst zu erkennen. Mitunter erkennen wir erst Jahre später, was der oder diejenige bewirken konnte. Manchmal nerven uns diese Menschen durch ihr langjähriges unbequemes Engagement, das wir bisweilen als penetrant empfinden. Erst mit zeitlichem Abstand können wir erkennen, was sie eigentlich erreicht haben.

Eines ist gewiss: Wer Zivilcourage zeigt, handelt nicht im eigenen Interesse und für das eigene Wohlergehen, sondern im Interesse der Allgemeinheit. Auch ein Wolfgang Thierse wusste nie, wie die Sache ausgeht, für die er sich gerade einsetzt. Für ihn zählt der Schutz ideeller Werte und Normen, die sich ihm im Laufe seines Lebens aus eigener Erfahrung eingebrannt haben. Heute sind diese Werte auch das Fundament unserer freiheitlich demokratischen Gesellschaft.

DANKE Wolfgang Thierse!

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