Demokratiegeschichten

Max Fettling – Ein Revolutionär wider Willen

Die Serie „17. Juni“ ist ein Kooperationsprojekt des Berliner Beauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur mit Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Berliner Aufarbeitungsbeauftragten haben für den Blog geschrieben.


Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 war keineswegs ein Berliner Phänomen. Überall im Land kam es bereits in den Tagen zuvor zu Protesten. Die Erhebung wäre für die SED nicht so gefährlich gewesen, wäre ihre Herrschaft nicht bis in den letzten Winkel der DDR infrage gestellt worden.

Das ist wenig verwunderlich. Der Leidensdruck für die Menschen war hoch. Nachdem die letzten Chancen auf eine Wiedervereinigung des geteilten Deutschlands 1952 geschwunden waren, ging die kommunistische Staatspartei SED dazu über, Ostdeutschland in eine Parteidiktatur umzuwandeln. Sie setzte auf offenen Terror, insbesondere gegen bürgerliche Milieus und die Kirchen. Ihre Herrschaft war aber noch ungefestigt und erst in den nächsten Jahren baute die Staatspartei die DDR zu einem Überwachungs- und Polizeistaat aus. Dies war jedoch nur die eine Seite der SED-Herrschaft. Die kommunistischen Machthaber machten auch Angebote, um die Menschen an das Regime zu binden. Dazu gehörten soziale Aufstiegschancen, wirtschaftliche Privilegien und nicht zuletzt eine für nicht Wenige attraktive politische Alternative zur erst wachsenden Demokratie in Westdeutschland.

Die DDR und die Arbeiter

Aushängeschild des neuen Ost-Berlins: die Stalinallee (Karl-Marx-Allee)

Der kommunistischen Ideologie folgend sollte die DDR den Arbeitern und Bauern gehören. Zwar bestanden zwischen Anspruch und Wirklichkeit krasse Unterschiede, doch buhlte die SED um die Gunst bestimmter Gruppen, zu denen auch die Bauarbeiter gehörten. Das galt insbesondere für jene, die auf der heutigen Karl-Marx-Allee in Berlin seit 1950 an der Errichtung einer neuen Prachtstraße arbeiteten. Die damalige Stalinallee sollte Aushängeschild des sozialistischen Deutschlands werden und zugleich die Verbundenheit der neuen Herrscher mit den Arbeitern betonen. Wer hier arbeitete, war deshalb vergleichsweise privilegiert. Die Entlohnung war besser, es gab Sonderzuschläge und die Aussicht auf eine Wohnung in den neuen „Arbeiterpalästen“. Dennoch waren die Bauarbeiter eine wesentliche Stütze und die Stalinallee sogar Epizentrum des Aufstandes. Um das zu verstehen, hilft ein Blick in die Biografie von Max Fettling.

Max Fettling

Max Fettling wurde 1907 in Berlin geboren und wuchs in einfachen Verhältnissen auf. Der Sohn eines Lackierers war vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges als Hilfsarbeiter tätig und wurde 1939 in die Berliner Feuerwehr eingezogen. Erst in den letzten Kriegstagen wurde er zum Wehrdienst nach Jugoslawien geschickt, wo er in Gefangenschaft geriet. 1948 kehrte Fettling zu seiner Familie nach Berlin zurück. Trotz der beginnenden Teilung blieb Fettling in Ost-Berlin, wo er auf verschiedenen Baustellen arbeitete. Politisch engagierte er sich nicht, trat aber der ostdeutschen Gewerkschaft bei. Fettling war bei seinen Kollegen beliebt und die SED stufte ihn als zuverlässig ein. Deshalb stieg er zum Vorsitzenden der Gewerkschaftsvertretung in seinem Betrieb auf, der federführend an der Errichtung der Stalinallee beteiligt war. Fettling selbst arbeitete unweit der neuen Prachtstraße am Klinikum im Friedrichshain.

Erweiterungsbau Krankenhaus Friedrichshain
Bundesarchiv, Bild 183-21822-0010 / CC-BY-SA 3.0


Der „Neue Kurs“

Anfang Juni 1953 änderte die SED-Führung ihre Politik plötzlich und ohne Vorankündigung. Die Sowjetunion, die als Siegermacht großen Einfluss auf die Entwicklung der DDR nahm, hatte einen „Neuen Kurs“ mit wirtschaftlichen und politischen Erleichterungen angeordnet. Das stieß bei Fettlings Kollegen auf ein geteiltes Echo. Zwar weckten die Lockerungen Hoffnungen auf eine bessere Zukunft. Entscheidend aber war, dass die SED die Bauarbeiter zwingen wollte, mehr Arbeitsleistung ohne Gehaltsausgleich zu erbringen. Forderungen nach einem Streik wurden deshalb schon am 12. Juni laut. Am kommenden Tag machte der Aufruf zum Streik während eines gemeinsamen Betriebsausfluges mit Arbeitern aus der Stalinallee auf dem Müggelsee die Runde. Befeuert wurden die Pläne unfreiwillig von der SED selbst: Am 14. Juni 1953 übte die Staatspresse vorsichtig Kritik an der Art und Weise, wie die Erhöhung der Arbeitsleistungen durchgesetzt worden war.

Dass die Forderungen Gehör finden könnten, schien also nicht abwegig. In seiner Funktion als Gewerkschaftsfunktionär setzte Fettling am 15. Juni einen Brief auf, der von seinen Kollegen allerdings wesentlich im Ton verschärft wurde: Aus der Bitte um eine Rücknahme der Beschlüsse wurde eine Forderung. Das Schreiben enthielt außerdem ein Ultimatum: Bis zum nächsten Vormittag müsse eine Antwort erfolgen. Im Grunde war der Vorgang nicht ungewöhnlich. Bittbriefe an Staat und Partei gehörten zu den gängigen Mitteln in der DDR; Forderungen zu stellen allerdings nicht.

Ein verhängnisvolles Schreiben: die von Max Fettling unterzeichneten Forderungen der Bauarbeiter an die Regierung; Abbildung: Bundesarchiv NY 4090/437

Forderungen an die Regierung

Fettling sicherte sich deshalb ab und sprach den Text mit dem örtlichen SED-Vertreter durch. Erst jetzt konnte der Brief, als offizielles Schreiben des Gewerkschaftskomitees und gezeichnet von Fettling, an die Regierung gehen. Er lief mit einer kleinen Delegation zum Sitz des Ministerpräsidenten in die Leipziger Straße. Dort wurden sie am Haupteingang abgewiesen, konnten das Schreiben aber immerhin einem Mitarbeiter des Ministerpräsidentenbüros übergeben. Daraufhin fuhr die Delegation zurück. Der Brief selbst ging an die SED-Parteiführung. Von dort hieß es, man habe die Lage im Griff. Trotz des eindringlichen Hinweises auf die „sehr erregte Stimmung“ unter den Arbeitern wurde das Schreiben nicht ernst genommen. Offenen Protest hatte es in den zurückliegenden Jahren kaum gegeben und die SED hoffte, dass Funktionäre wie Fettling mäßigend auf die Arbeiter einwirkten.

Der Demonstrationszug formiert sich, 16. Juni 1953; AdsD/FES 6/FOTB027204

Das aber war eine fatale Fehleinschätzung. Die Arbeiter ließen sich nicht einschüchtern. Sie marschierten am 16. Juni zur Leipziger Straße und drohten nun offen mit Streik. Im Gegensatz zum Vortag waren sie keine unauffällige Gruppe mehr. Schätzungsweise 10.000 Menschen schlossen sich ihrem Marsch durch die Innenstadt an. In der Leipziger Straße angekommen, verweigerte die Parteiführung erneut den Dialog – weder wurde eine Delegation vorgelassen, noch ein Zugeständnis an die Protestierenden gemacht. Enttäuscht fuhren einige Bauarbeiter nach West-Berlin und sprachen beim Sender RIAS vor. Am Abend berichtete dieser von den Vorgängen und den Forderungen der Bauarbeiter, einschließlich des Aufrufes zum Generalstreik am kommenden Tag. Das hatte Signalwirkung.

Kommentar des RIAS zu den Ereignissen in Ost-Berlin, 16. Juni 1953:

http://www.17juni53.de/audio/track7.mp3

http://www.17juni53.de/audio/track7.mp3

http://www.17juni53.de/audio/track8.mp3

Fettling versuchte seine Kollegen am 16. Juni vergeblich von ihrem Vorhaben abzuhalten, stellte sich ihnen aber auch nicht in den Weg. Nach Aussagen seiner Kollegen verhielt er sich während der Aufstandstage zurückhaltend und versuchte sogar, mäßigend zu wirken. Er riet ausdrücklich von Streiks ab und beteiligte sich am 17. Juni selbst nicht am Aufstand, der seit dem Mittag von sowjetischen Truppen niedergeschlagen wurde.

In den Fängen der Stasi

Am 18. Juni 1953 wurde Fettling in seiner Wohnung verhaftet. Die SED suchte nach Schuldigen und weigerte sich, die eigentlichen Ursachen des Aufstandes anzuerkennen. Sie beharrte darauf, dass der Aufstand ein vom Westen herbeigeführter Putsch gewesen sei. Fettling wurde trotz seiner Zurückhaltung nun öffentlich als „Provokateur“ gebrandmarkt.

Berliner Zeitung, 29. August 1953

Ein Jahr Untersuchungshaft im Stasi-Gefängnis in Berlin-Hohenschönhausen lieferte keinerlei Beweise dafür. Dennoch wurde Fettling am 26. Mai 1954 in Ost-Berlin wegen angeblicher „langjähriger Agententätigkeit“ zusammen mit weiteren Kollegen von der Baustelle Krankenhaus Friedrichshain zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Obwohl der Prozess nicht öffentlich stattfand, wurde sein Schicksal im Westen schnell bekannt. Versuche, den unschuldig Verurteilten Fettling freizubekommen, scheiterten. Erst im Zuge des politischen Tauwetters 1956 hatte eine Urteilsüberprüfung Erfolg. Nach vier Jahren Haft wurde Fettling im Sommer 1957 vorzeitig entlassen. In Ost-Berlin durfte er nicht bleiben und floh daher mit seiner Frau nach West-Berlin. Dort arbeitete er als Pförtner. Wenige Tage vor seinem 67. Geburtstag verstarb er in einem Krankenhaus in Berlin-Neukölln.

Max-Fettling-Platz, seit 2003 vor dem Krankenhaus Friedrichshain; © BAB / Jens Schöne

Max Fettling geriet in Vergessenheit. Erst 2003 wurde ein kleines Rondell an der alten Einfahrt zum Krankenhaus Berlin-Friedrichshain nach ihm benannt. Fettling war kein Revolutionär, vielleicht ein Held wider Willen. In jedem Fall haben sein Wirken und der Protest seiner Kollegen gegen die SED einen wichtigen Anteil an der Geschichte des Volksaufstandes vom 17. Juni.

Ronny Heidenreich ist Referent beim Berliner Beauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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