Demokratiegeschichten

Rechtspopulistischen Vereinnahmungen vorbeugen und begegnen – Vernetzungstreffen vom 15.-16 September 2022 in Berlin

Am 28. Mai 2022 näherte sich eine weißgekleidete Menschenmenge dem Hambacher Schloss. Ihr Ziel war es, das zeitgleich stattfindende Fest der Demokratie an diesem symbolträchtigen Ort zu nutzen, um auf ihre Kritik gegen die Coronamaßnahmen aufmerksam zu machen. „Wir sind das Volk“ lautete ihre Parole. Neben schwarz-rot-goldenen Fahnen waren auch rechtsextremistische Flaggen und Symbole, wie beispielsweise der rechtsextremistischen Reichsbürgerbewegung, zu sehen.

Was an diesem Tag in Neustadt an der Weinstraße passierte, ist kein Einzelfall. Überall und in unterschiedlichen Formen nutzen Rechtspopulist:innen in Deutschland Erinnerungsorte, Gedenktage und -stätten, um ihre Ansichten zu verbreiten. Wie aber können sich Geschichtsinstitutionen und Einzelpersonen gegen eine solche Vereinnahmung der Erinnerungskultur wehren? Lassen sich vielleicht sogar präventive Maßnahmen vornehmen?

Thema und Ablauf des Vernetzungstreffens 2022

Mit diesen Fragen haben sich die Teilnehmenden des diesjährigen Vernetzungstreffens beschäftigt. Gemeinsam mit dem Anne-Frank-Zentrum organisiert Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. seit 2015 jährlich ein zweitägiges Treffen über aktuelle Fragen, Themen und Debatten der Geschichtsvermittlung. Praktische Tipps und der Austausch von Erfahrungen einzelner Multiplikator:innen stehen dabei im Fokus. 2022 fand das Treffen vom 15.-16. September zum zweiten Mal in Berlin statt.

Geschichte vor Ort als Einstieg

Geschichtsvermittlung geschieht auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichen Räumen. Für die Teilnehmenden gab es als Einstieg in die Tagung drei alternative Führungen, um Geschichte vor Ort zu erleben: Zur Auswahl standen neben der Ausstellung „Alles über Anne“ im Anne-Frank-Zentrum Berlin eine Besichtigung des Friedhofs der Märzgefallenen und der Lernort Keibelstraße, eine ehemalige Untersuchungshaftanstalt in der DDR. Bereits in diesem Programmpunkt erfuhren die Teilnehmenden der Tagung viel über die unterschiedlichen Formen der Vereinnahmung der Lernorte und ihrer Geschichte sowie ihren Umgang damit.

Porträt von Anne Frank.
Gedenkstein auf dem Friedhof der Märzgefallenen.
Der Lernort Keibelstraße.

Vereinnahmung von rechts – Zeichen einer gescheiterten Erinnerungskultur?

Einen inhaltlichen Einstieg in das Thema des Treffens gab Dr. Tanja Kinzel, Bildungsreferentin der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS). In ihrem Vortrag stellte Kinzel verschiedene Formen der Holocaust-Vereinnahmung durch Rechtspopulist:innen, aber auch durch Vertreter:innen eines linken, politischen Spektrums vor. Häufiges Merkmal der Schoa-Vereinnahmungen ist die grundsätzliche Relativierung durch eine sogenannte Selbstviktimisierung.

Mit dem Verweis auf eine vermeintliche Vergleichbarkeit versuchen sie sich selbst in die Tradition der Holocaust-Opfer zu stellen. Auf diesem Weg soll die eigene Position legitimiert, beziehungsweise das Vorgehen ihrer politischen Gegner:innen delegitimiert werden. Für die tatsächlichen Opfer des Holocaust bedeutet eine solche Relativierung allerdings eine drastische Verharmlosung ihres Leids. Wie die gemeldeten Fälle beim RIAS zeigen, wird in den vergangenen Jahren eine allgemeine Tendenz sichtbar, wonach solche Fälle der Holocaust-Verharmlosungen in immer breiteren Kreisen der deutschen Bevölkerung sagbar werden.

Laut Kinzel ist dieser Trend nur im Zusammenhang mit Verschiebungen in der deutschen Erinnerungskultur zu verstehen. In der eigenen Familiengeschichte wird nämlich zumeist kein Bezug zum Holocaust hergestellt, dafür die persönlichen Kriegsverluste in den Vordergrund gerückt. Dementsprechend klafft eine deutliche Lücke zwischen der offiziellen, verantwortungsbetonten Erinnerungskultur auf öffentlichen Veranstaltungen zum Gedenken der Schoa-Opfer und der persönlichen Perspektive der NS-Geschichte weit auseinander. Ein weitverbreitetes „Unbehagen“ gegenüber der deutschen Erinnerungskultur ist die Folge.

Dr. Tanja Kinzel hielt den Einführungsvortrag.

Dieses Unbehagen wurde von Rechtspopulist:innen gezielt genutzt, um ihre eigene Agenda anzuschließen. Während sich einerseits mit Parolen gegen den vermeintlichen „Schuldkult“ Anhänger:innen generieren lassen, betonen rechtspopulistische Politiker:innen an anderer Stelle ihre volle Solidarität mit dem Staat Israel und sprechen sich für eine Welt ohne Antisemitismus aus. Dies betonen Vertreter:innen rechter Parteien unter anderem auf Gedenkveranstaltungen zum Erinnern an die Schoa-Opfer. Letzteres hat mit der tatsächlichen Abkehr von Antisemitismus in den Reihen der Rechten allerdings wenig zu tun. Stattdessen dient die unverbindliche Bestätigung der offiziellen Erinnerungskultur dem Zweck, antimuslimische Feindbilder zu aktivieren.

Um dieser vielfältigen Vereinnahmung der Erinnerungskultur von rechtspopulistischer Weise zu begegnen, plädierte Kinzel für einen offenen Umgang mit Widersprüchen in der Geschichte. Außerdem solle die eigene Familiengeschichte kritisch aufgearbeitet werden. Auf diese Weise kann uns allen deutlich werden, dass das Erinnern an den Holocaust keine bloße Anordnung von oben und von außen ist. Wichtig ist die Botschaft: Es geht dabei um uns, um unsere Geschichte!  

Erfahrungsaustausch im World Café

Nach dem Impulsvortrag von Tanja Kinzel rückten die eigenen Erfahrungen der Teilnehmer:innen mit dem Thema „Vereinnahmung durch Rechtspopulismus“ in den Fokus. In wechselnden Kleingruppen setzten wir uns mit konkreten Beispielen und Handlungsoptionen aus dem eigenen Alltag auseinander. Gesammelt und diskutiert wurden die unterschiedlichen Erfahrungen anhand dreier Fragen:

  • Wo und wie findet eine gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung zur rechtspopulistischen Vereinnahmung von Geschichte statt? Gibt es ein Bewusstsein dafür?
  • Wo und in welcher Form sind mir im Arbeitskontext oder im privaten Raum konkrete rechtspopulistische Vereinnahmungen bereits begegnet?
  • Welche Handlungsmöglichkeiten im Umgang mit rechtspopulistischen Vereinnahmungen kenne ich und nutze ich? Wo sind Unklarheiten und welche Bedarfe habe ich?

Rechtspopulismus im Netz und vor Ort

Basma Baghat (li.) und Hatice Ince (re.) in ihrem Workshop; Foto: Ruthe Zunthz.

Am Vormittag des zweiten Tages teilte sich die Runde in drei Gruppen. Angeboten wurden drei parallel laufende Workshops mit unterschiedlichem Themenschwerpunkt. Im ersten Workshop klärten Hatice Ince und Basma Baghat vom Kompetenznetzwerk Hass im Netz über Chancen und Gefahren von Erinnerungskultur über Social Media auf. Unter dem Titel „Chancen & Möglichkeiten der Erinnerungskultur in Zeiten von Social Media“ war hierbei eine zentrale Frage der Umgang mit und mögliche präventive Maßnahmen gegen digitale Gewalt.

Der zweite Workshop „Wie können sich Museen und Gedenkstätten vor rechten bis rechtsextremen Anfeindungen und Angriffen schützen? Konkrete Strategien der Prävention und Intervention“ befasste sich mit Vereinnahmungen von Museen und Gedenkstätten durch Rechtspopulist:innen. Zunächst stellten die Workshopleiter Michael Sulies und Simon Brost von der Mobilen Beratungsstelle gegen Rechtsextremismus Berlin mehrere Szenarien vor. In Kleingruppen überlegten und diskutierten die Workshopteilnehmenden anschließend, welche Handlungsoptionen den betroffenen Institutionen zur Verfügung stehen, um der jeweiligen Form der  Vereinnahmung zu entgegnen und vorzubeugen.

Gruppenarbeit im dritten Workshop; Foto: Ruthe Zunthz.

Einen ähnlichen Ansatz verfolgten Annalena Baasch und Larissa Bothe von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. in ihrem Workshop „Unwissenheit, Provokation oder mehr?“. Auch hier beschäftigten sich die Teilnehmer:innen mit Fragen der Prävention und Intervention. Der Fokus lag dabei speziell auf Vereinnahmungen im Rahmen der pädagogischen Arbeit von Museen und Gedenkstätten. Wie reagiert man beispielsweise als Moderator:in, wenn im Workshop oder in einer Führung plötzlich rechtspopulistische Kommentare fallen?

Vereinnahmung der DDR-Geschichte

Das abschließende Podiumsgespräch, v.l.n.r. Dr. Axel Drecoll, Hatice Ince, Dr. Maria Nooke, Annalena Baasch, Michael Sullies; Foto: Ruthe Zuntz

Die Ergebnisse der drei Workshops wurden innerhalb des abschließenden Podiumsgespräches am Ende des Treffens zusammengetragen. Mit dabei waren die Workshopleiter:innen Annalena Baasch, Hatice Ince und Michael Sullies. Zudem bestand die Expert:innenrunde aus der Beauftragen des Landes Brandenburg zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur, Dr. Maria Nooke, sowie Dr. Axel Drecoll, Leiter der Gedenkstätte Sachsenhausen und Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten.

Zunächst drehte sich das Gespräch um die Frage, welche Themen der Erinnerungskultur bevorzugt durch rechtspopulistische Akteur:innen vereinnahmt werden. Neben Selbstviktimisierung und -heroisierung durch Vergleiche mit Opfern des Holocaust und bekannten Widerstandskämpfer:innen im Nationalsozialismus sind auch Verweise auf die DDR und die Friedliche Revolution 1989/90 weit verbreitet.

Dr. Maria Nooke verdeutlichte in ihrem Redebeitrag den Zusammenhang zwischen der weiten Verbreitung rechtspopulistischer Parolen in den ostdeutschen Bundesländern und einer ebenso weit verbreiteten Unzufriedenheit mit der öffentlichen Wahrnehmung der DDR. Positiv erinnerte Alltagserfahrungen beispielsweise fallen bei einer negativen Darstellung der DDR aus dem Raster. Aber auch Opferkonkurrenzen, die Befürchtung, dass die eigene Leiderfahrung vor dem Hintergrund der NS-Geschichte, nicht angemessen wahrgenommen würde, spielen bei der aufkommenden Kritik eine große Rolle. Dem entgegenzuwirken ist unter anderem Aufgabe der Aufklärungsarbeit Maria Nookes und ihres Teams. Letzten Endes müssen bestehende Spannungen aber auch ausgehalten werden.

Positionieren, verbünden, reingehen!

Im Rahmen der Podiumsdiskussion wurden abschließend die wichtigsten, besprochenen Handlungsstrategien gegen rechtspopulistische Vereinnahmungen gesammelt. Deutlich wurde im Verlauf des Treffens, dass unterschiedliche Themen und Formen der Vereinnahmung unterschiedliche Reaktionen und Präventionsmaßnahmen erfordern. Einige gemeinsame Nenner lassen sich jedoch trotzdem aufführen.

  1. Zunächst ist es sowohl für Einzelpersonen als auch Organisationen wichtig, die eigene Position und die eigenen Grenzen zu definieren. Wie weit möchte ich gehen? Möchte ich mich auf eine Diskussion einlassen? Was ist meine Meinung?
  2. Institutionsintern ist eine kontinuierliche Kommunikation zwischen allen Beteiligten notwendig, um eine gemeinsame Position zu erarbeiten und geschlossen nach außen auftreten zu können.
  3. Des Weiteren ist es von großem Vorteil sich mit anderen Institutionen zu verbünden. Gemeinsame Presseerklärungen, Austausch von Erfahrungen und solidarischer Beistand schaffen einen Gegenpol zu rechtspopulistischen Akteur:innen.
  4. Letzten Endes sind präventive Maßnahmen von entscheidender Bedeutung. Mit einer klaren Haus- oder Nutzungsordnung werden Besucher:innen einer Gedenkstätte, eines Museums, Workshops oder Gedenkfeier deutliche Grenzen aufgezeigt. Diese Regelwerke sind jedoch nur von Vorteil, wenn sie konsequent durchgesetzt werden. Darüber hinaus sollte jede Institution im Voraus Handlungsketten festlegen, sodass die Maßnahmen und Aufgabenverteilung für den Krisenfall bereits geklärt sind.
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Über uns 
Annalena B. arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. als Projektkoordinatorin im Bereich Demokratiegeschichte.

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